Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
wird.
FISCHER Oh, doch. Wenn Sie heute mit Gorbatschow über die Straße gehen, was glauben Sie, was da los ist? Es ist wirklich so.
STERN Ja, wenn er hier über die Straße geht. Aber wenn er nicht hier über die Straße geht … Und es würde auch wohl weder mit Schewardnadse funktionieren – was ich verstehen kann, weil er nicht dieses Ansehen hat, weltweit – noch mit Gorbatschow in Moskau. Dort ganz bestimmt nicht. In seinem eigenen Land gilt er ja als derjenige, der die Macht des Imperiums verspielt hat.
FISCHER Richtig, dafür wurde er ja vom späten Sebastian Haffner auch heftig kritisiert – zu Unrecht, wie ich finde. Die Sowjetunion war kaum mehr überlebensfähig, das russische Imperium seit langem überdehnt.
STERN Ich fand vor allem Gorbatschows Rede vom gemeinsamen Haus Europa wichtig, die er wohl Anfang ’89 hielt. Wobei er sein eigenes Land als Mitbewohner des Hauses selbstverständlich dazu zählte. Ich empfand das damals als wegweisend und schrieb einen Artikel, sozusagen Gorbatschow begrüßend. Dass er die USA außen vor ließ, erschien mir allerdings bedauerlich und falsch.
FISCHER Ich meine, das Thema bleibt. Ein gemeinsames Haus Europa klingt zurzeit zwar unwahrscheinlich, weil Putin die Eurasische Union schaffen will. Es bleibt für Russland dennoch die große Frage: Wo gehören wir hin, nach welcher Seite wollen wir uns orientieren. Und da kommen wir zurück zum Grundbass Europa. Ein starkes Europa eröffnet andere Perspektiven, als wenn Russland wieder eingeladen wird, die alte imperiale Rolle gegenüber einem gespaltenen und schwachen Europa zu spielen. Ich meine, dass Russland zu schwach ist, um im 21. Jahrhundert – in der neuen Weltordnung mit den XXL-Mächten China, Indien, Brasilien, USA – allein gehen zu können. Wir haben nicht mehr die bipolare Welt des Kalten Krieges, das strategische Gewicht Russlands ist nicht groß genug, die Bevölkerungsentwicklung ist negativ, und wenn sie allein bleiben, als Petrostaat, dann wird es für das Land sehr schwer werden. Bleibt also nur die Westorientierung. Aber ob Russland unter Putin den dafür notwendigen Weitblick hat, bezweifle ich. Stattdessen scheint es erneut in Richtung großrussischer Träume zu gehen.
STERN Wie sich Russland entwickeln wird, ist zurzeit unberechenbar. Dieser Zwist im russischen Bewusstsein ist alt; im 19. Jahrhundert war das Land sozusagen zerstritten zwischen «Slawen» uns «Westlichen».
FISCHER Also, aus Lokalberliner Sicht sind die Russen mittlerweile, glaube ich, fast so stark vertreten in der Stadt wie die türkische Minderheit. Wir haben hier eine sehr starke russische Zuwanderung, vor allen Dingen Mittelschicht und obere Mittelschicht – die ganz Reichen gehen nach London. Es gibt eine starke russische Community in Europa, und die Bevölkerung zu Hause in Russland blickt ebenfalls nach Westen, nach Europa und den USA. Das hat man gesehen in Moskau und Sankt Petersburg bei den Protesten vor den Wahlen. Vor allem die jungen Leute orientieren sich sehr stark in Richtung Westen, nicht Richtung Fernost und schon gar nicht in Richtung islamische Welt.
STERN Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Russen sich sozusagen nach innen orientieren. Das war bei Gorbatschow eben klarer, er strebte in das gemeinsame Haus Europa.
FISCHER Ja, und Putin möchte das Imperium unter neuen Bedingungen wieder erschaffen.
STERN Genau, und das macht die Entwicklung nicht ungefährlich, denn bei allen momentanen Schwächen ist Russland trotzdem nach wie vor eine Weltmacht mit Weltmachtanspruch und Weltmachtpotential.
FISCHER Ob Russland noch eine Weltmacht ist, da würde ich ein Fragezeichen setzen, ein ganz dickes.
STERN Aber der Anspruch, der ja auch historisch bedingt ist …
FISCHER Ob der Anspruch der Realität entspricht, da würde ich noch ein großes Fragezeichen setzen. Die Russen sind eine Nuklearmacht mit globalen Nuklearkapazitäten, keine Frage. Aber ob sie diese Macht noch global projizieren können, wie das die alte Sowjetunion konnte, das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
STERN Trotzdem wäre es geradezu fahrlässig, sie zu unterschätzen.
FISCHER Also ich unterschätze Russland keineswegs. Aber schon im konventionellen Bereich, wenn Sie sich den Zustand des russischen Militärs heute anschauen …
STERN Der ist ohne Zweifel anders als noch vor 25 Jahren. Aber gehen Sie nach Polen, da sieht man das
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