Gegen Die Laufrichtung: Novelle
schon bereit, auf einen Satzgewinn gegen den Wimbledonspieler zu wetten, und Jonas war wieder Mensch, Insasse wie die anderen; Nacht für Nacht lag er wach und verwechselte Unglück mit Geilheit, immer mehr breitete sich das häßliche Wort in ihm aus. Jonas will endlich ins Reine kommen mit diesem Wort, ich war im Gefängnis, will er Christine gestehen, doch da revoltieren seine Därme. Er muß aufs Klo, also Christine allein lassen, jetzt, wo sie sich zu ihm gesetzt hat, für ein paar Minuten jede Möglichkeit aufgeben, sie am Gehen zu hindern, und natürlich wüßte sie, was er in diesem Zeitraum, den er während der Haft zu verkürzen gelernt hat, machte, und also gebrandmarkt kehrte er zurück an den Tisch. Oder sollte er auch sagen, ich muß telefonieren, aber mit wem? Alle alten Verbindungen waren dahin, selbst die zu seinen Doppelpartnern, auch wenn die ihm geschrieben hatten, von Key West in sein Gefängnis, kaum lesbar natürlich, in ihrer Art, den eigenen Namen auf hingestreckte Papiere zu schmieren, Spiel gegen die Mauern, Jonas, mach weiter, Wimbledon will still exist in four years. Der Kellner kommt an den Tisch, Christine bestellt sich Carpaccio, der Kellner beugt sich herab, er zieht Luft in die Nase, er macht eine Bemerkung über Christines Parfüm, Ich hatte es auch schon, sagt er, als sei es passe. Jonas steht auf, er mag diesen Mann nicht, Christine scheint ihn zu kennen; der Kellner beugt sich noch tiefer zu ihr, und Jonas eilt ins Innere des Operncafés. Er eilt hinunter zu den Toiletten, er riegelt sich ein.
Jahrelang hat er sich den ersten Schiß in Freiheit vorgestellt, die Zeit, die er sich nehmen würde, die Reinigungen danach, und nun hockt er hier, in der Hand eine zur Neige gehende Rolle, den Blick auf der Uhr: Christine wird weg sein, wenn er zurückkommt, es gibt jetzt Wichtigeres auf der Welt als einstige Sportgrößen; Jonas weiß, daß sich die Welt in den letzten Jahren verändert hat, aber in welche Richtung? Nach einiger Zeit ohne Geliebte, die ihm die Welt immer nahegebracht hatten, erreichten ihn von der Welt nur noch Bruchstücke und mischten sich zu neuen Geschichten. Da zog Gorbatschow auf Reagans Ranch, und das englische Königshaus löste sich auf, während Deutschland zum Kontinent schwoll und das Kabinett, in Berlin, aus immer mehr Frauen mit immer längeren Namen bestand; weil die Welt ihn nicht mehr kennt, kennt Jonas die Welt nicht mehr. Noch einmal schaffen seine Därme, er krümmt sich, und im nächsten Moment: ein kurzer, pfählender Schmerz, er kennt das; seit einem Freiluftturnier, Hamburg, Rotherbaum, Eiseskälte im Juni, und man war noch nicht dazu übergegangen, diese knallige Spielerwäsche zu tragen, plagt es ihn immer wieder da unten. Kaum zu Hause, ging Jonas zum Arzt, Westendadresse, nur war dann das Problem nicht mehr die Prostata, sondern die Urologin, wer rechnet da schon mit einer Frau; die Untersuchung sollte schmerzhaft sein, doch ihn beschäftigte nur, welchen Anblick er böte. Ganz schön weich da drin, war Ellas erster Kommentar, mit ihrer schwebenden, nie ganz sachlichen Stimme, Wie ein alter Tennisball. Und dann verlor sie kein Wort mehr über sein Leiden, streifte den Gummi ab und kam auf ihre Interessen, Radfahren, Malerei, Kongresse. Sie sprachen über Sport und Ästhetik, sie sprachen über die Einsamkeit in Hotelzimmern, und noch immer kein Schmerz. Von all den Frauen, die Jonas begegnet sind, hat keine so sanfte Finger besessen; wie ein Billett bekam er am Ende das Rezept zugesteckt, mit einer Einladung zur Nachuntersuchung. Er lernte Ellas Ultraschallgerät kennen, später ihren Kreis, Leute, die zwar wußten, wer er war, die Nummer vierundsechzig, Tennisspielen aber als drittrangige Beschäftigung ansahen. Alle schienen sie durch etwas verbunden, das bedeutender war, als Bälle zu schlagen, während es in seiner Umgebung nur um Training, Dollars und Ernährung ging. Eine Bande Halbwüchsiger, sagte Ella, die aus sämtlichen Himmelsrichtungen anfliegt, sechs Tage lang einander mit Bällen beschießt, Publikum und Schiedsrichter bedroht, Huldigungen und Schecks entgegennimmt und sich wieder davonmacht. Daß diese Kerle nicht stehlen und morden, liegt nur daran, daß ihnen die Zeit dazu fehlt! Jonas säubert sich und betet, er betet, Christine möge noch da sein. Hastig wie ein Kind zieht er sich an, hastig wäscht er sich die Hände und sieht sein Gesicht. Jonas sieht Jonas, einen Mann weder alt noch jung, einen Alterszwitter: schöne
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