Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Bodo Kirchhoff
Gegen die Laufrichtung
Novelle
Suhrkamp Verlag
Erste Auflage 1993
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993
epub-Konvertierung by Manni 2012
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Nach „Infanta" nun eine knappe, sorgfältige durchkomponierte Erzählung Kirchhoffs. Ein Mann, Anfang 30, früher ein international bekanntes Tennis-As, hat seine Haftstrafe für eine sinnlose Eifersuchtstat abgesessen und kehrt in die Freiheit und nach Frankfurt zurück. In der Begegnung mit einer Frau, die er hier kennenlernt, werden ihm die Erfahrungs- und Reaktionsmuster erneut lebendig, die zu seinem Verbrechen führten. Die eindringlich erzählte, in einer irritierenden Schlußpointe gipfelnde Novelle fügt dem großen Thema Kirchhoffs – der Fremdheit der Geschlechter – eine neue Facette hinzu.
Der Entlassene, ein nicht mehr junger Mann von Anfang dreißig, begibt sich vom Gefängnis am Rande der Stadt zu einem Café im Zentrum, dem Ort, an dem sein Verbrechen geschah, als er nämlich einen Mann erstach, den die Frau, an die der Entlassene immer noch denkt, eine Ärztin, ihm, der ein bekannter Tennisspieler war, plötzlich vorgezogen hat. Auf dem Rücken einen jener damals gerade wieder in Mode gekommenen Beutel-für-alles, geht er an diesem Septembervormittag durch eine beglückende Wärme: für ihn die erste Sonne in Freiheit seit dem Jahr, in dem Gorbatschow Honecker fallen ließ und Becker die US-Open gewann, für andere, die nie ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen haben, die letzten noch spendablen Strahlen vor den Wochen des Nebels. Die milde Luft krönt seine Entlassung; ein Grund mehr, daß ihn die veränderte Silhouette der Stadt – man denke nur an den Messeturm – völlig unberührt läßt. Er ist ganz mit der wiedererlangten Freiheit beschäftigt, etwa sich auf ein Stück Rasen zu legen, zu schlafen, oder in die nächstbeste Toilette zu gehen, ein Wort an die Wand zu schreiben, das ihn seit Beginn seiner Haftzeit verfolgt. Erst als er die Grünanlagen im Bankengebiet überquert, um so sein Ziel, den Opernplatz, zu erreichen, durchdringt etwas diese Fülle der Freiheit, die er sich eintausendeinhundert Tage lang ausgemalt hat. Der Entlassene sieht die Süchtigen. Wie der Rest einer geschlagenen Armee drängen sie sich in einer Umfriedung, die einst für Schachspieler angelegt wurde, viele mit hängenden Hosen, im weißen Bein die Nadel. Obwohl es Hunderte sind, geht es leise zu, ein leises Handeln, Weinen, Kotzen. Der Entlassene läuft jetzt rascher; er zieht eine Baseballkappe aus den Zeiten seines Erfolgs ins Gesicht, damit ihn kein ehemaliger Mithäftling erkenne, und fängt dann an zu rennen, so gut er noch rennen kann, bis er an den Ort gelangt, den er zuletzt als vierundsechzigster der Weltrangliste betrat und nun, sehr wahrscheinlich, als zehntausendster wiederbetritt, eben den Platz bei der Oper, angeblich einzige Perle der Stadt, nüchtern gesehen kaum weniger abstoßend als alle übrigen Plätze. Noch außer Atem setzt er sich an einen Tisch vor dem Operncafé, genau neben den, an welchem die Tat geschah – der Tisch selbst ist von einer rauchenden Frau im Mantel belegt –, und verlangt, was er auch damals als erstes verlangt hat, Mineralwasser, bevor er die Frau im Mantel nach der Zeit fragt, um eine noch mit anderen persönlichen Dingen in dem Beutel verwahrte Uhr zu stellen. Es ist elf.
Der Entlassene behält die Kappe auf. Zusätzlich trägt er eine Sonnenbrille, obwohl die Gefahr, erkannt zu werden, hier geringer ist als in der Nähe der Süchtigen; wie eine Walze über ein Steinchen ist selbst die Geschichte des Tennis über den vierundsechzigsten Platz der Weltrangliste des Jahres 89 hinweggerollt. Zwar hat er im Gefängnis, am Anfang, Zeitung gelesen und dabei verfolgt, wie sein Land wieder eins wurde, doch immer die Sportseiten überblättert und nie die Übertragung eines Spiels angesehen: sie ist für ihn vorbei, diese Freude, sie ist so fern wie die Frauen. In seiner besten Zeit – fast wäre er, auf Sand, in das Finale von Paris eingezogen – stieß er wie von selbst zu den Frauen, und nun fürchtet er sie. Am meisten fürchtet er die Ärztin, auch wenn sie nichts weiß von der frühen Entlassung; keiner weiß davon etwas, nicht einmal seine Mutter, die sich schon neben der Herzogin von Kent gesehen hatte, als er in Wimbledon in die Vorrunde kam. Der Kellner, mit Zöpfchen, bringt das Wasser, der Entlassene trinkt einen
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