Gegenschatz
alles nicht echt ist, weil sie nicht wirklich dich lieben, sondern das Bild, was sie aus dir geschnitzt haben. Sie kennen dich nicht einmal wirklich. Ich habe zwar nicht die Zuneigung unserer Eltern, aber ich habe mich selbst. Ich bin mir immer treu geblieben und ich weiß genau, was ich kann und will. Ich folge meinem Herzen, auch wenn ich keine akademische Ausbildung, Auszeichnungen oder Trophäen vorweisen kann. Zugegeben, wenn einen die eigenen Eltern nicht lieben, das tut schon weh, aber ich kann nicht anders. Ich lasse mich nicht verbiegen.»
Alles in mir ist verstummt. Ich sinke aufs Sofa und denke nach. Ich wehre mich dagegen, aber im tiefsten Inneren meines Wesens spüre ich, dass Tamara einen wahren Kern getroffen hat. Meine Mutter Eva wollte immer, dass ich wie sie Chemikerin werde. Mein Vater Bernd war nicht ganz so festgelegt, Hauptsache es war etwas naturwissenschaftliches. So hatten wir uns schließlich auf Biologie mit Schwerpunkt Mikrobiologie geeinigt. Mehr Spielraum gab es für mich nicht, dennoch bin ich nicht ganz überzeugt von Tamaras Worten. Meine Erfolge bestätigen mich und geben mir ein hohes Maß an Selbstwertgefühl. Mein Leben verläuft geordnet und erfolgreich – wenn man die Sache mit Nick mal ausklammert.
«Ach du bist doch nur neidisch, Tamara», entgegne ich halbherzig.
«Ich glaube, du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt! Du willst es nur nicht wahrhaben, dass unsere ach so perfekten, erfolgreichen Eltern uns beiden keine echte Liebe geben – echte Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft!»
Dieses Gespräch gefällt mir überhaupt nicht.
«Sie wollten uns doch nur zu Höchstleistungen verhelfen, für unser eigenes Wohl, unseren Erfolg im Leben!»
«Du willst es nicht wahrhaben, aber du belügst dich selbst!»
Ich springe auf und trabe Richtung Küche.
«Hör endlich auf, unsere Eltern schlecht zu reden. Wir haben alles bekommen, was wir für ein erfolgreiches und glückliches Leben brauchen und jetzt Schluss mit dieser Diskussion!», rufe ich Tamara im Gehen zu.
Ich schließe die Augen, stütze mich auf die Küchenablage und atme tief durch. Nein, ich will nicht weiter darüber nachdenken, ich lasse mir mein Leben nicht durcheinander bringen. Der Hunger ist mir vergangen, stattdessen schnappe ich mir die halbvolle Weinflasche, die Tamara angebrochen hat und schenke mir ein Glas ein. Ich rieche daran – fruchtig herb – und kippe es in einem Zug hinunter. Es dauert nicht lange, bis sich das schummrige Gefühl in meinem Kopf breit macht. Ich schnappe mir ein Päckchen mit Erdnüssen und kehre zu Tamara zurück. Ich leere die Erdnüsse einfach so auf den Couchtisch. Tamara grinst mich fröhlich an.
«Hey, cool, das ist ja wie früher! Gut, dass uns Eva nie dabei erwischt hatte, wie wir die salzigen Erdnüsse einfach so von ihrem edlen Couchtisch gefuttert haben!»
«Wir haben sie aber nicht nur gegessen!»
Auch ich muss lächeln bei der Erinnerung, wie wir die Nüsse über den Tisch geschnippt haben. Die Nüsse, die man auffing bevor sie in den Abgrund flogen, durfte man essen. Alle anderen kamen wieder auf den Tisch.
«Du hast also Lust auf ein Erdnussmatch?»
Ich nicke und grinse. Es ist fast wie früher. Ich lache, bis mir die Tränen aus den Augen quellen. Meine Schwester! Ich habe sie trotz unserer Unterschiede immer geliebt und jetzt schaffe ich es einfach nicht mehr, wütend auf sie zu sein.
«Spielst du eigentlich noch manchmal Gitarre?», fragt Tamara plötzlich. Ich zucke mit den Schultern.
«Selten!»
Unser Vater fand Gitarre nicht das passende Instrument für eine Akademikertochter, stattdessen erhielt ich Geigenunterricht an der Musikschule.
«Hol sie doch mal raus! Ich finde die Gitarre liegt dir viel mehr als die Geige.»
Ich gehe zum Abstellraum und krame den Gitarrenkasten aus der Ecke. Ich wische den Staub ab und bringe ihn ins Wohnzimmer. Mein Puls beschleunigt sich, als ich die Schnallen aufklappe und langsam den Deckel hebe. Wie ein verbotener Schatz liegt das Instrument in seiner Kiste. Meine Augen wandern liebevoll über die Saiten. Andächtig hole ich die Gitarre heraus und lege sie an. Als mein Daumen über die Saiten streicht, verziehe ich das Gesicht – sie muss dringend gestimmt werden. Aber es dauert nicht lange, bis das Instrument wieder in meinen Ohren singt. Ich stimme eine selbst komponierte Melodie an. Tamara lässt sich gemütlich in die Couch sinken und lauscht meiner Musik. Meine Finger tanzen locker über die Saiten,
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