Gegenwinde

hörte man Jazz und schaute auf die Wellen, an schlechten Tagen schlugen sie bis an die Scheiben.
    Ich bestellte zweimal Rum. In der Halbzeit war Rennes mit zwei Toren im Rückstand. Der Wirt seufzte und zappte zu den Nachrichten, dieses Jahr seien sie zu nichts zu gebrauchen, die Stürmer stolperten über ihre eigenen Füße, und die Verteidiger seien auch nicht viel besser. Bleibe das Mittelfeld. Solide, fleißige Burschen, aber ohne Genie. Er konnte sich stundenlang darüber auslassen. Niemand hörte zu, aber alle mochten ihn. Man ließ ihn reden. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm, dieses Foto, dieses Gesicht, das kannte ich wie alle hier. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich bat den Wirt, den Ton lauter zu stellen, die Stimme des Journalisten schwoll an, und im Raum wurde es totenstill. In dem Kasten zu seiner Rechten lächelte Justine. Was hatte sie im Krankenhaus von Villeneuve-Saint-Georges verloren? Sie wurde psychologisch betreut, aber es ging wohl einigermaßen, der »Vorfall« hatte sich im Wald ereignet, ein Spaziergänger war von ihren Schreien alarmiert worden, der Kerl hatte nicht die Zeit gehabt, ihr etwas zu tun, er hatte die Flucht ergriffen, aber es gab eine Personenbeschreibung. Man sei hier sehr erleichtert, ihr Verschwinden habe für beträchtliche Unruhe gesorgt, schloss der Journalist, bevor er zum nächsten Punkt überging. Der Wirt schaltete den Fernseher aus, ihm war nicht mehr nach Fußball und auch sonst niemandem, die Gespräche gingen leise weiter, ein beklommenes, eintöniges Gemurmel. Draußen hatte die Nacht alles ausgelöscht, die Laternen auf der Promenade schimmerten ohne große Überzeugungskraft und taten sich schwer, die Welt zu erhellen.
    Ich ließ Bréhel auf der Promenade zurück. Statt nach Hause ging ich lange Zeit an der Reihe der Hotels und Sommerhäuser entlang, das Meer kam näher, man brauchte nicht hinzuschauen, um es zu wissen, es genügte, die Ohren zu spitzen, das Rauschen nahm zu, bei jedem Schritt wurde es dichter und tiefer. In der Ferne erleuchteten die Festungsmauern die Nacht, und der Glockenturm der Kathedrale widersetzte sich der Horizontale, eine schmale Spitze ragte in das glänzende Schwarz des Himmels. Ich kam wieder in die Stadt, nur wenige Autos fuhren an mir vorüber, der Platz war menschenleer, und in den Glasveranden der Restaurants saßen schweigende ältere Paare beim Essen. Dahinter das übliche für Geschäftsreisende: Man aß allein ein Fischfilet oder schälte Scampi beim Festbankett, bevor man auf seinem Zimmer zu den endlosen Programmen des Satellitenfernsehens zurückkehrte, der Bildschirm über der Minibar würde den Raum bis spät in die Nacht mit einem kalten Lichtschein erfüllen. Ich mied die Straßen und ging an den Festungsmauern entlang, zu ihren Füßen warfen die Wellenbrecher im Mondlicht lange, starke, vollkommen parallele Schatten, sie schienen auf die Forts draußen im Meer zu zeigen, man erkannte sie kaum, zwei kubische Blöcke im öligen Wasser. Der Zöllnerpfad führte im Kreis herum, von hier aus sah man nichts vom Handelshafen, die Stadt schien eine Insel zu sein, dem Horizont geweiht. Einige Meter weiter unten glitzerte das Schwimmbad unter freiem Himmel, von einem Sprungbrett überragt, in kaum einer Stunde würde die Flut es schlucken. Rechts erhob sich ein kleiner Hügel aus Erde Fels und Gras, der abrupt ins Meer abfiel, eine Zwergenklippe, auch um sie würde das Wasser sich schließen, schon leckte es an den Steinen des Römerwegs. Caroline und ich waren eines Nachts dort gefangen gewesen, vier Stunden hatte die Insel nur uns gehört, aber die Zeit schien mir viel zu kurz, ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben, ihr Körper war an meinen gelehnt, ich hatte die Jacke aufgeknöpft, um sie ganz darin aufzunehmen. Entlang der Küste funkelten ein paar Lichter, kündeten von geisterhaften, leeren Ferienorten, die erst der Sommer wieder füllen würde, von geschlossenen Läden und verwaisten Restaurants, verstaubten Hotels und stillen Casinos, in denen alte Frauen die Spielautomaten klingeln ließen und hin und wieder auf die Wogen blickten, die nie aufhörten mit ihrem eigensinnigen Gesang. Wahrscheinlich gab es englische Paare dort, die ein paar Tage in melancholischen Villen verbrachten, eine sanfte Verwahrlosung umgab sie, eine diffuse, aber köstliche Tristesse. Ich ging am Jachthafen entlang, die Masten glänzten im Mondlicht, die Bar war verlassen, ein Kellner würde bis drei Uhr morgens ausharren,