Gegenwinde
Auch er hatte Angst bekommen.
»Es ist der Wind«, erklärte er. »Es bläst zu stark.«
Bei jeder Bö zitterte das Haus, die Scheiben standen unter Spannung und drohten zu zerspringen. Ich ließ alle Rollläden hinunter und stellte die Heizung höher. Zu dritt lagen sie in meinem Bett, Isabelle las ihnen Geschichten vom Sturm vor, Clément hörte zu, als wäre er erst vier, es tat ihm sicherlich gut, ein bisschen Kontrolle abzugeben, sich gehenzulassen. Ich schloss die Tür, im Wohnzimmer zündete ich zwei Kerzen an, machte eine Flasche Wein auf, Polly Jean Harvey tobte. Draußen krachte etwas. Ich ging hinaus, der Wind schlug mir entgegen, er drang mir in Mund und Nase ein, ich konnte nicht atmen. Gischtfetzen rollten im Kies, trieben zwei Meter über dem Boden dahin. Der halbe Birnbaum lag im schwarzen Gras. Der Stamm war gespalten, Holzstücke waren über das ganze Gelände verstreut. Neben dem Schuppen reckte die umgestürzte Mimose ihre Wurzeln in die Luft. Auch in den anderen Gärten beugten sich die Bäume knackend im Sturm, am Haus gegenüber hingen die klappernden Fensterläden nur noch in einer Angel. Es würde nicht mehr lang dauern, bis die Scheiben zersprangen. Ich ging weiter bis zur Steilküste, der Sand war fahl und das Meer glatt. Ich hielt mich am Geländer fest, um nicht umgepustet zu werden, zwanzig Stundenkilometer mehr, und es hätte mich weggeblasen. Nach ein paar Sekunden war ich durchnässt. In meinem Rücken war trotz des Winds ein dumpfes Geräusch zu hören. Ich machte kehrt, ein Mast versperrte die Straße, die Leitungen waren abgerissen, die Lampen gaben kein Licht mehr. Im Haus war alles dunkel, die Heizkörper nur noch lauwarm. Ich holte Holz aus dem Schuppen. Die Wände knarrten, ich betete, dass sie hielten. Zehn Minuten später loderten grüne Flammen im Kamin, das Feuer qualmte und verbreitete seinen beißenden Geruch im Haus. Isabelle und die Kleinen kamen herunter, rieben sich die Augen, schlotterten vor Kälte. Ich zog die Matratzen auf dem Fußboden zu einem großen Bett nebeneinander, für Manon war es ein Floß, das Wasser konnte ruhig steigen. Ich trank die Flasche aus und sah zu, wie sie schliefen, im Feuerschein verwischten sich ihre Züge, wurden irgendwie flüssig. Ich döste im Sessel, betrunken und benommen, die Wände beschützten uns, sie würden nicht so bald einstürzen, ich hatte Vertrauen.
Beim Aufwachen war der Himmel blau, und aus der Stille schloss ich, dass der Wind sich gelegt hatte. Ich war wie zerschlagen, ich hatte völlig zusammengekrümmt geschlafen, mein Körper ließ es mich büßen. Isabelle war nicht mehr da, sie musste um sieben Uhr gegangen sein, ihr Dienst begann um acht. In ein Laken gehüllt, zog ich den Vorhang auf, unter der strahlenden Sonne lag der Garten da wie ein Schlachtfeld, ein Trümmergrundstück. Aber ansonsten war die Nacht nur ein Traum gewesen. Der Mast in der Sackgasse stand wieder an seinem Platz, die Leitungen verbanden die Häuser miteinander und liefen in die Stadt, als wäre nichts gewesen. Die Heizkörper waren knallheiß, und die Lampen im ersten Stock beleuchteten die Wände. Die Kinder standen gegen Mittag auf. Um zwei würde Alex kommen. Das Niedrigwasser war für vier Uhr angekündigt, das Meer nahm es mit solchen Dingen sehr ernst.
Das Wasser ging uns bis zu den Knöcheln, vom Wind geriffelt, lag es transparent unter dem wolkenlosen Himmel, der sandige Grund schimmerte gelb. Felsen und Algen ließen das Blaugrün kaum dunkler erscheinen. Wäre nicht die trockene Kälte der Luft gewesen, hätte man sich im Sommer geglaubt: Die Sonne über unseren Köpfen stand tiefer als im Juli und hatte weniger Kraft, die Farben aber waren dieselben. Mit Stiefeln und dicken Handschuhen machten Alex und Clément Jagd auf Krebse, sie hoben Steine hoch und untersuchten jede Pfütze. Überall tauchten Felshaufen aus den Fluten, und unter unseren aufgequollenen Schuhen war der Sand schlammig. Während Nadine und ich Sandschnecken sammelten und im Sand nach Herz- und Tellmuscheln gruben, suchte Manon den Boden nach den charakteristischen zwei kleinen Löchern ab, zog einen Salzstreuer aus ihrer Tasche und streute etwas Salz darauf. Nach ein paar Sekunden erschien die Schwertmuschel, zuerst leistete der klitschige muskulöse Körper Widerstand, aber wenn man daran zog, gab er mit einem Sauggeräusch nach, das Manon ebenso belustigte wie ekelte. Dann entließ sie das Tier wieder ins Wasser und machte sich auf die Suche nach anderen
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