Geheime Depeschen #2
nächste Zeit in seinem Anwesen im Osten Englands wohnen lassen wollte; das Gericht hatte diesen Aufenthaltsort genehmigt.
Vince war ein ehemaliger Kriegsreporter und Hauptmann der britischen Streitkräfte, der William schon häufiger Unterschlupf in seinem Londoner Journalistenclub gewährt hatte und ihn nun in seinem Privathaus aufnahm. Ohne diese britische Adresse wäre er als Ausländer nie gegen Kaution freigekommen. Vince setzte sich schon lange für Whistle blow ein, er war ein entschiedener Verfechter für mehr Transparenz im öffentlichen Leben und größere Unabhängigkeit sämtlicher Medien. Für diese Werte setzte er sich in jeder Hinsicht ein und unterstützte deshalb Williams Projekt auch finanziell. Mehrfach hatte er öffentlich versichert, er würde William Lagrange niemals im Stich lassen.
Christian tanzte fast vor Freude, der Anwaltfand kaum Worte, um seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Doch sein Gesicht verriet alles. William wusste, dass es ihnen beiden noch bevorstand, gleich vor die Presse zu treten. Er selbst hatte den Reportern noch nicht viel mitzuteilen, außer seiner Freude über die wieder erlangte Freiheit. Auf dem Weg zu ihrem Wagen äußerte er deshalb lediglich:
“Es ist toll, wieder die frische Luft von London zu atmen.“ Vom anderen Ende der Welt, auf Kuba, meldete sich jemand zu Wort, mit dessen Gratulation William kaum gerechnet hatte: „William Lagrange hat die USA moralisch in die Knie gezwungen“, verkündete der greise Fidel Castro in Havanna.
Ost-England, Anwesen von Vince Walsh, 15.12.2010
Die erste Nacht in Freiheit ließ William gut schlafen. Entsprechend erholt wachte er am Morgen darauf in Vinces Haus auf. Die elektronische Fußfessel juckte entsetzlich, am liebsten hätte er sie abgerissen und durch das geschlossene Fenster geschleudert. Doch das war im Moment sein geringstes Problem. Auf dem Nachttisch lag bereits eine Tageszeitung. Sie war voll mit Berichten über seine Freilassung. Allerdings rechnete er im Lauf des Tages mit dem Bekanntwerden weiterer Details zu den Sexualdelikten, die man ihm in Schweden vorwarf. Christian hatte ihn bereits gewarnt, es würde eine weitere „Schmutz-Kampagne“ gegen ihn geben. Außerdem hegte er Befürchtungen, dass er über Schweden an die USA ausgeliefert werden könnte, wo ihm eine Anklage wegen Spionage drohte. Sie hatten gestern eine Schlacht gewonnen, aber längst noch nicht den ganzen Krieg.
“Frühstück?“ William schrak kurz auf, Vince stand bereits im Zimmer. Er hatte ihn überhaupt nicht rein kommen gehört.
„Mensch, Vince, kannst du das nicht lassen?“ William umarmte seinen Freund, dem er zu großen Dank verpflichtet war.
„Nein, kann ich nicht. Alte Armee-Gewohnheit. Möchte nicht aus der Übung kommen.“ Beide lachten herzhaft.
„Willst du nun oder willst du nicht?“, fragte Vince.
„Was soll ich wollen!“ William stand auf dem Schlauch.
„Na, frühstücken.“ Vince kannte seinen zerstreuten Professor gut. „Lass uns runter gehen, es ist schon alles gerichtet.“
William schnappte sich schnell einen Morgenmantel, der an einem Haken an der Tür hing, und warf ihn sich über.
Das Anwesen von Vince war riesig, es glich einem alten englischen Herrenhaus, wie man sie sonst nur aus Filmen kannte. Über eine geschwungene Treppe gelangten sie in das Foyer, von wo aus es in verschiedene Räumlichkeiten ging. William war schon öfters hier zu Gast gewesen.
„Ich gehe noch kurz in die Küche, deinen Koch begrüßen. Im Gefängnis habe ich seine Künste sehr vermisst.“
William genoss es, frei durch dieses Haus spazieren zu dürfen. Sicher, sein Aktionsradius war durch die elektronische Fessel begrenzt, doch das war allemal noch besser, als in einer Zelle schmoren zu müssen.
Christine wartete im Salon bereits sehnsüchtig auf ihren Sohn, sie war sichtbar nervös. Auch wenn sich ihr Verhältnis in den letzten Tagen und Wochen deutlich gebessert hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, etwas bei ihm gut machen zu müssen.
„Will noch jemand Rührei oder Pancakes mit Blaubeeren“, rief es aus der Küche.
William hatte die Auswahl seiner Speisen bereits getroffen. „Ich glaube kaum, dass ich das alles alleine essen kann“, bemerkte er. Christine schmunzelte.
„Ja, ich nehme von allem etwas“, rief sie ihm zu. So kannte sie ihren Sohn. Und so hatte sie ihn in letzter Zeit nur selten erlebt. Permanent von Sorgen geplagt, war von seinem witzigen Naturell nicht viel übrig
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