Geheime Tochter
negativ. Es ist eine gutartige Zyste. Also alles in Ordnung.«
Somer schließt die Augen und haucht ihre Antwort. »Oh, Gott sei Dank.« Sie atmet tief aus. »Danke, James. Geh wieder ins Bett. Bye.« Sie legt das Handy hin und vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Mom?«
Somer dreht sich um und sieht Asha in einem Nachthemd, die Haare zerzaust. »Asha, Schätzchen.« Sie steht auf, öffnet die Arme, und Asha stürzt auf sie zu.
Nach der Umarmung weicht Asha zurück und sieht sie an. »Mom? Was war das eben? Mit wem hast du da gesprochen?«
Somer streicht ihrer Tochter übers Haar und merkt, dass es ein ganzes Stück länger ist. »Schätzchen, ich muss dir was sagen.« Sie nimmt Ashas Hand, und sie setzen sich an den Tisch. »Mir geht’s gut, so viel vorweg. Ich hatte vor zwei Tagen eine Biopsie wegen eines Knotens in der Brust und ich habe gerade erfahren, dass er gutartig ist. Es ist also alles in Ordnung.«
Die Furchen in Ashas Stirn bleiben. Ihre Augen sind ernst.
»Ehrlich, kein Grund zur Sorge«, versichert Somer und berührt Ashas Knie. »Es tut so gut, dich zu sehen.«
Asha springt auf und schlingt die Arme um Somers Hals. »Ach, Mom. Ist wirklich alles in Ordnung? Hundertprozentig?«
»Ja, hundertprozentig.« Sie nimmt Ashas Hände und drückt sie. »Wie geht es dir?«
Asha setzt sich wieder hin. »Ich habe dich so vermisst, Mom. Ich bin froh, dass du da bist.«
»Ist doch klar.« Somer lächelt. »Wo sollte ich denn sonst sein?«
»Ich weiß, dass es auch Dadima viel bedeutet«, sagt Asha. »Sie versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber sie leidet sehr. Ich kann sie nachts in ihrem Zimmer weinen hören.«
»Es muss furchtbar für sie sein«, sagt Somer. »Ihren Mann nach wie vielen Jahren zu verlieren, fünfzig?«
»Sechsundfünfzig. Sie haben ein Jahr nach der Unabhängigkeit geheiratet«, sagt Asha. »Sie ist eine wunderbare Frau. Ich habe so viel von ihr gelernt. Alle sind unglaublich nett zu mir – weißt du, wie viele Cousins und Cousinen ich hier habe? Zweiunddreißig. Es war eine großartige Zeit hier, wirklich großartig.«
Somer lächelt. »Und was macht dein Projekt?«
Ashas Augen glänzen und sie setzt sich gerader hin. »Hast du Lust, heute mit mir zur Times zu kommen? Dann zeige ich’s dir.«
Somer folgt Asha durch den weitläufigen Redaktionsraum und staunt, wie selbstsicher ihre Tochter in dieser Umgebung wirkt.
»Meena?« Asha bleibt endlich stehen und klopft an eine offene Tür. »Ich möchte dir meine Mom vorstellen.«
Die zierliche Frau springt von ihrem Sessel hoch. »Ah, die berühmte Frau Dr. Thakkar. Asha spricht in höchsten Tönen von Ihnen. Es ist mir eine Ehre.«
Sie streckt ihre Hand hin, und Somer schüttelt sie, genießt das Gefühl, so überschwänglich als Ashas Mutter begrüßt zu werden.
Meena wendet sich an Asha. »Hast du’s ihr schon gezeigt?«
Asha schüttelt lächelnd den Kopf.
»Dann hol’s her«, sagt Meena. »Ich mache das Licht aus.«
»Wir haben alle Interviews gefilmt, die ich in den Slums gemacht habe«, erklärt Asha, als sie ihren Laptop auf Meenas Schreibtisch aufklappt. »Und ich habe ein paar der Highlights zu einem kurzen Film zusammengeschnitten.« Die drei Frauen drängen sich vor dem Bildschirm.
Als die Neonlampen schließlich flackernd wieder angehen, bringt Somer zunächst kein Wort heraus, so bewegt ist sie von dem, was sie gerade gesehen hat. Asha hat es geschafft, Hoffnung an einem Ort zu finden, wo man es am wenigsten erwarten würde. Inmitten all der Armut und Verzweiflung der Slums hat sie die Kraft der Mutterliebe gezeigt. Und dass uns diese Liebe letztlich alle verbindet. Im Abspann hat Asha den Film all den Müttern gewidmet, die ihn erst möglich gemacht haben. Sie hat alle Frauen namentlich aufgelistet. Somers Name kam zuletzt, stand ganz allein auf dem Bildschirm.
Meena ergreift als Erste das Wort. »Die Times bringt ihren Artikel nächsten Monat als Sonderfeature. Asha wird als Autorin und bei den Fotonachweisen genannt.« Sie legt einen Arm um Asha. »Ihre Tochter ist ein echtes Talent. Ich bin gespannt, was sie als Nächstes macht.«
Somer lächelt und möchte vor Stolz platzen. Kris hatte recht. Indien hat ihr gutgetan.
»Als Nächstes würde ich furchtbar gern essen gehen. Du auch, Mom?«
»Der Laden ist toll«, flüstert Somer über das weiße Tischtuch hinweg. »Ist der neu?« Die Speisekarte des Hotelrestaurants sieht aus, als käme sie schnurstracks aus Florenz.
»Ja, hat aufgemacht,
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