Geheime Tochter
gewachsen, zueinander hin, zwei Bäume, die sich mit dem Alter aneinanderlehnen. Wenn ihre Zeit kommt, werden sie und Jasu vielleicht das Glück haben, eine Liebe zu haben wie die ihrer Eltern, eine Liebe, die wider alle Vernunft Bestand hat und sogar den Tod erträgt.
Kavita denkt an all das, was sie noch immer nicht weiß, nicht mal jetzt als Erwachsene. Sie weiß nicht, wo ihre Tochter ist. Sie weiß nicht, was sie bei Vijay falsch gemacht hat. Sie weiß nicht, ob Bapu sich heute oder morgen an sie erinnern wird. Sie weiß nicht, wie sie weitermachen soll ohne die kühle Hand ihrer Mutter auf der Stirn. Sie weiß nur eines mit Sicherheit: In den nächsten paar Tagen wird sie sich um ihren Vater kümmern. Dann wird sie ihren Koffer packen, in den Zug nach Mumbai steigen und zu Jasu heimkehren.
58
Abschiedsgeschenke
Mumbai, Indien – 2005
Asha
»Mom hat mich schon wieder um Längen abgehängt.« Asha bückt sich, um ihre Laufschuhe aufzubinden.
Ihr Vater und Dadima sitzen am Tisch und trinken wie jeden Morgen eine zweite Tasse Tee. »Und dabei hatte sie nur eine Woche Zeit, sich an die herrliche Luftverschmutzung von Mumbai zu gewöhnen«, sagt ihr Dad. »Wart’s ab, zu Hause in der frischen kalifornischen Luft wird sie dich im Park überrunden.« Er massiert Asha kurz die Schultern, als sie sich neben ihn setzt.
»Nicht schlecht für eine alte Frau«, sagt ihre Mom und wischt sich übers Gesicht.
»Devesh, limbu pani layavo! «, ruft Dadima über die Schulter in die Küche. Devesh erscheint prompt mit einem gekühlten Glas frisch gepresstem, mit Rohrzucker gesüßtem Limettensaft und stellt es vor Ashas Mom auf den Tisch. Seit ihre Mutter Geschmack an diesem arbeitsaufwendigen Getränk gefunden hat, sorgt Dadima dafür, dass jeden Morgen nach dem Joggen ein Glas für sie bereitsteht. »Nenn dich nicht alte Frau! Was in aller Welt wäre ich denn dann?«, sagt Dadima lachend.
Ihre Mutter nimmt einen Schluck. »Mmm. Köstlich. Danke, Sarla.«
Dadima wackelt mit dem Kopf, entschuldigt sich und lässt die drei allein.
»Trinkst du wirklich überhaupt keinen Kaffee mehr, Mom?«, fragt Asha.
Somer nickt. »Die ersten zwei Wochen waren hart, aber inzwischen bin ich den ganzen Tag hellwach, wenn ich genug Flüssigkeit zu mir nehme, und das Koffein fehlt mir überhaupt nicht.«
»Ich find’s unglaublich, wie durchtrainiert du bist.« Asha fühlt den Bizeps ihrer Mutter. »Machst du Krafttraining?«
»Ein bisschen. Aber hauptsächlich kommt es vom Yoga. Ich habe da ein tolles Studio gefunden, nicht weit von … ähm, nicht weit von der Klinik.«
»Yoga, im Ernst? Vielleicht sollte ich mal mitkommen, ich könnte ein bisschen Muskeltraining gebrauchen, nachdem Dadima mich dermaßen gemästet hat. Sieht sie nicht toll aus, Dad?« Asha wendet sich an ihren Vater.
»Ja«, sagt er, und ihre Eltern lächeln einander zärtlich an. »Ja, das tut sie wirklich.« Ihr Dad umarmt ihre Mom von hinten und küsst sie auf den Kopf. »Und hast du schon gehört, dass deine Mom einen Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht hat?«
»Tatsache, Mom?«, fragt Asha.
»Ja, was sagst du dazu? Jetzt bist du nicht mehr die einzige Autorin in der Familie.« Ihre Mom schmunzelt.
»Und du willst wirklich nicht mitkommen, Dadima? Ich verrat’s auch niemandem, Ehrenwort«, sagt Asha, zieht eine Augenbraue hoch und lächelt. Sie packt einen Stapel gefaltete Kleidungsstücke in einen großen Koffer auf dem Bett.
» Nai, nai, beti . Die Einäscherung liegt noch keine zwei Wochen zurück. Ich darf das Haus nur verlassen, um in den Tempel zu gehen. Außerdem, was hat eine alte Frau wie ich an einem Flughafen zu suchen? Ich würde dochbloß im Weg stehen, wie ein Koffer mehr, auf den ihr aufpassen müsst.« Sie lächelt Asha an. »Keine Sorge. Nimish bringt euch hin, und Priya kommt auch mit, oder?«
»Ja«, sagt Asha, die Mühe hat, den übervollen Koffer zu schließen. »Sie kommen uns in zwei Stunden abholen. Aber ich wünschte trotzdem, du kämst mit.«
»Du musst uns einfach bald wieder besuchen, beti . Vielleicht nächstes Jahr? Könnte sein, dass unsere Priya in der nächsten Hochzeitssaison endlich heiratet.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Dadima. Ich würde mich nicht drauf verlassen.« Asha lacht und setzt sich aufs Bett, zwischen den Koffer und ihre Großmutter. In der Stille, die auf das Lachen folgt, blickt Asha zu Boden, auf die alten, knotigen Füße, mit denen ihre Großmutter in den vergangenen
Weitere Kostenlose Bücher