Geheime Tochter
1
Beginn der Trauer
Dahanu, Indien – 1984
Kavita
Als sie tief in ihrem Innern das erste unverkennbare Ziehen spürte, ging sie in der Abenddämmerung zu der unbewohnten Hütte, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Die Hütte ist leer, bis auf die Matte, auf der sie jetzt liegt, die Knie an die Brust gezogen. Als die nächste Schmerzwelle ihren Körper durchbebt, ballt Kavita die Fäuste, gräbt die Fingernägel in die Handteller und beißt auf den Ast zwischen ihren Zähnen. Ihr Atem geht schwer, aber gleichmäßig, während sie darauf wartet, dass der Krampf in ihrem geschwollenen Bauch wieder abebbt. Sie heftet den Blick auf den blassgelben Schatten, den eine flackernde Öllampe auf den Lehmboden wirft, ihre einzige Gesellschaft in den dunklen Nachtstunden. Sie versucht, ihre Schreie zu dämpfen, solange es ihr noch möglich ist. Schon bald, so weiß sie, wenn sie nicht anders kann als pressen, werden ihre Schreie die Hebamme des Dorfes alarmieren. Sie betet, dass das Baby vor Tagesanbruch da ist, denn ihr Mann wird selten vor Sonnenaufgang wach. Es ist das erste von nur zwei Gebeten, die Kavita für dieses Kind zu sprechen wagt, aus Angst, sonst vielleicht zu viel von den Göttern zu verlangen.
Das tiefe Donnergrollen in der Ferne erinnert daran, dass den ganzen Tag über Regen gedroht hat. Feuchtigkeit hängt in der Luft, schlägt sich in kleinen Tropfen aufihrer Stirn nieder. Es wird eine Wohltat sein, wenn der Himmel sich endlich öffnet und der Regen kommt. Der Monsun ist für sie von jeher mit einem besonderen Geruch verbunden: roh und erdig, als hätten sich Boden, Ackerpflanzen und Regen in der Luft vermischt. Es ist der Geruch von neuem Leben.
Die nächste Wehe kommt jäh und raubt ihr den Atem. Der Schweiß malt dunkle Flecke in die dünne Baumwolle ihrer Saribluse, die an einer Reihe winziger Hakenverschlüsse über den Brüsten spannt. Diesmal ist sie runder geworden als letztes Mal. Unter vier Augen hat ihr Mann mit ihr geschimpft, weil sie sich nicht besser verhüllt hat, aber dann hörte sie, dass er anderen Männern gegenüber mit ihren Brüsten prahlte, sie mit reifen Melonen verglich. Sie hielt es für eine Gnade, dass ihr Körper diesmal anders aussah, weil ihr Mann und die anderen deshalb davon ausgingen, dass dieses Baby ein Junge würde.
Eine plötzliche Angst packt sie, dieselbe erstickende Angst, die sie die ganze Schwangerschaft hindurch gespürt hat. Was wird passieren, wenn alle sich täuschen? In ihrem zweiten Gebet, das verzweifelter ist als das erste, fleht sie darum, dass sie nicht wieder ein Mädchen zur Welt bringt. Denn das kann sie nicht noch einmal ertragen.
Sie war nicht darauf gefasst gewesen, was beim letzten Mal geschah. Ihr Mann kam ins Zimmer gestürmt, kaum dass die Hebamme die Nabelschnur durchtrennt hatte. Kavita nahm den widerlich süßen Geruch von chickoo-fruit – Schnaps an ihm wahr. Als Jasu den sich windenden Körper des kleinen Mädchens in Kavitas Armen sah, glitt ein Schatten über sein Gesicht. Er wandte sich ab.
Kavita fühlte, wie die gerade aufkeimende Freude Verwirrung wich. Sie wollte etwas sagen, einen der Gedanken aussprechen, die ihr durch den Kopf wirbelten. So viele Haare … ein gutes Omen . Aber stattdessen hörte sie Jasus Stimme, entsetzliche Dinge, die sie nie zuvor von seinen Lippen vernommen hatte, eine Reihe von Obszönitäten, die ein Schock für sie waren. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie seine geröteten Augen. Er kam mit langsamen, bedächtigen Schritten kopfschüttelnd auf sie zu. Sie spürte, wie eine unbekannte Furcht in ihr aufstieg, sich mit Entsetzen und Verwirrung vermischte.
Der Schmerz der Geburtswehen hatte ihren Körper geschwächt. Ihr Verstand versuchte verzweifelt zu begreifen. Zu spät nahm sie wahr, dass ihr Mann einen Satz auf sie zu machte. Und sie war nicht schnell genug, um ihn daran zu hindern, dass er ihr das Baby aus den Armen riss. Die Hebamme hielt sie fest, als sie sich nach vorn warf, mit ausgestreckten Armen und noch lauter schreiend als in dem Moment, in dem der Kopf des Babys ihr Fleisch zerriss, um sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Er verschwand mit seiner schreienden Tochter, die ihre ersten Atemzüge in dieser Welt tat, aus der Hütte. In diesem schrecklichen Moment wusste Kavita, dass es auch ihre letzten sein würden.
Die Hebamme drückte sie sanft wieder zurück. »Lass ihn gehen, mein Kind. Lass ihn doch gehen. Es ist vorbei. Du musst dich ausruhen. Du hast eine Tortur hinter
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