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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Horizont, wärmt ihnen mit ihrem orangeroten Feuer Gesicht und Hals.
    Sie hätten den pandit bitten können, sie zu begleiten, slokas zu singen, während sie die Asche ihrer Mutter verstreuen. Aber beide Schwestern wollten ihrer Mutter diese letzte Ehre allein erweisen. Selbst für ihren Vater, da waren sie sich einig, war es besser, wenn er heute nichtdabei war. Zwei Tage nach der Einäscherungszeremonie im letzten Monat hatte er schon wieder begonnen, sie zu fragen, wo seine Frau denn wäre. Ob sein verwirrter Verstand ihm Streiche spielte oder ihm die schmerzhafte Wahrheit ersparte, konnten sie nicht mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall beschlossen sie schließlich, ihm vorzugaukeln, ihre Mutter würde ihre Schwester im Nachbardorf besuchen und am nächsten Tag wiederkommen. Diese Tante war zwar schon einige Jahre zuvor gestorben, aber das stellte für ihren Vater kein Problem dar. Im Gegenteil, die Erklärung genügte, um ihn den ganzen Tag lang ruhig zu halten. Wenn er am Morgen darauf erneut fragte, wiederholten sie einfach die Lüge. Mit jedem weiteren Tag ging ihnen die Lüge leichter über die Lippen. Die Tage vergingen, und ihr Vater fiel ganz allmählich in seinen alten Trott zurück, schimpfte lediglich wieder über den lahmen Deckenventilator oder seinen lauwarmen Morgentee. Schließlich fuhr Jasu zurück nach Mumbai, während Kavita beschloss, noch eine Weile länger zu bleiben, um dieses letzte Ritual zu vollführen.
    Kavita schiebt den Deckel von der Urne und neigt sie in Rupas Richtung. Obwohl zwischen ihnen als Töchtern praktisch keine Rangordnung einzuhalten ist, lässt sie Rupa als der älteren Schwester aus Respekt den Vortritt. Rupa greift mit der Hand in die schmale Urnenöffnung und nimmt eine kleine Handvoll grauer Asche heraus. Kaum hat sie die Finger ein wenig geöffnet, weht die leichte Brise ihr auch schon etwas von den Rändern der Handfläche. Sie hält die Hand übers Wasser und neigt sie zur Seite, bis die Asche auf die Wasseroberfläche fällt. Dort treibt sie einen Augenblick lang und ist dann nicht mehr zu sehen, vermischt sich mit dem Meer und allem, was es birgt.

    Kavita greift in die Urne und streut die Asche mit lockeren Bewegungen ins Wasser, so wie sie beim roti – Backen die Arbeitsfläche mit Mehl bestäubt. Sie schauen zu, wie die Asche verschwindet, dann ist Rupa wieder an der Reihe. Sie machen abwechselnd so weiter, bis die Urne fast leer ist. Dann halten sie, ohne etwas sagen zu müssen, die Urne zusammen übers Wasser und schütten den letzten Rest Asche aus. Das anschließende Schweigen wird von Rupa durchbrochen, die auf einmal losweint, erst leise, dann immer lauter, bis ihr ganzer Körper vor Schluchzen bebt. Kavita schlingt einen Arm um ihre Schwester, dann den zweiten, hält sie ganz fest, während sie weint. Zusammen schauen sie zu, bis die allerletzten Reste vom Körper ihrer Mutter ins Meer gesunken sind.

55
Das nennt man Familie
    Mumbai, Indien – 2005
Asha

    »Die Mulligatawny-Suppe ist wirklich gut hier.« Sanjay sitzt ihr gegenüber, die Hände sorgsam auf dem Tisch gefaltet, die Augen forschend auf Asha gerichtet.
    Auf Dadimas Drängen hin hat sie sich bereit erklärt, heute mit ihm zu Mittag zu essen. Er reist bald nach London ab, aber seit der Einäscherungszeremonie fällt es ihr schwer, ihre Großmutter allein zu lassen. Und so sitzt sie nun hier, ungeschminkt, die ungewaschenen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, in einem piekfeinen Hotelrestaurant mit einem jungen Mann, in den sie sich wirklich verlieben könnte. Asha klappt die laminierte Speisekarte zu. »Okay, die nehm ich«, sagt sie. »Sanjay, was bedeutet Usha? «
    Er blickt von seiner Speisekarte auf. » Usha? Das bedeutet … Morgendämmerung. Wieso?«
    »Morgendämmerung«, wiederholt sie und sieht zum Fenster hinaus. »Das ist der Name, den sie mir gegeben haben. Meine leiblichen Eltern hatten mich nur drei Tage, ehe sie mich ins Waisenhaus brachten, aber sie haben mich Usha genannt.«
    Er legt die Speisekarte hin und beugt sich vor. »Du hast sie gefunden?«
    Asha nickt. Sie hat es noch niemandem erzählt. Und sobald sie die Wahrheit, die sie jetzt kennt, laut ausspricht,wird sie ein unumstößlicher Teil von ihr werden. »Ich habe sie gefunden. Ich habe ihnen nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, aber ich habe sie gefunden.«
    Der Kellner kommt an ihren Tisch. Sanjay bestellt für sie beide, und der Mann geht wieder.
    »Sie heißen Kavita und Jasu Merchant«, fährt

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