Geheime Tochter
sie fort. »Sie wohnen in einem Apartmenthaus in Sion.« Sie stockt. »Und sie haben einen Sohn. Vijay. Er ist ein oder zwei Jahre jünger als ich.« Sie sieht Sanjay an, wartet auf eine Reaktion, und er fordert sie mit einem Kopfnicken auf fortzufahren. »Sie haben einen Sohn bekommen, nachdem sie mich weggegeben haben. Sie haben ihn behalten, weil er ein Junge ist, und –«
»Du weißt doch gar nicht, ob das der Grund war.«
Asha wirft ihm einen gereizten Blick zu. »Ach, komm schon, ich bin nicht von gestern.«
»Es könnte alle möglichen Erklärungen geben. Vielleicht konnten sie sich damals kein Kind leisten. Vielleicht haben sie irgendwo gelebt, wo es nicht sicher war. Oder vielleicht haben sie es bereut, dich verloren zu haben, und beschlossen, doch noch ein Kind zu bekommen. Du kannst nicht wissen, wie es im Herzen eines anderen Menschen aussieht, Asha.«
Sie nickt, dreht den Silberreif an ihrem Handgelenk. »Sie war aus irgendeinem Dorf nördlich von hier. Sie hat den weiten Weg in die Stadt zurückgelegt, bloß um …« Sie verstummt, kann nicht weitersprechen.
»… um dich in das Waisenhaus zu bringen?«, beendet Sanjay den Satz für sie.
Asha nickt. »Und sie hat mir das hier gegeben.« Sie deutet auf den Armreif an ihrem Handgelenk.
»Sie haben dir alles gegeben, was sie geben konnten«,sagt Sanjay. Er greift über den Tisch nach ihrer Hand. »Und, wie fühlst du dich jetzt, wo du es weißt?«
Asha starrt aus dem Fenster. »Ich habe früher so Briefe geschrieben, als ich klein war«, sagt sie. »Briefe an meine Mutter, in denen ich ihr erzählt habe, was ich in der Schule gelernt habe, wer meine Freundinnen waren, welche Bücher ich mochte. Ich muss ungefähr sieben gewesen sein, als ich den ersten schrieb. Ich habe meinen Dad gebeten, ihn für mich abzuschicken, und ich erinnere mich noch an den traurigen Ausdruck in seinen Augen, als er gesagt hat: ›Tut mir leid, Asha, ich weiß nicht, wo sie ist.‹« Sie wendet sich wieder Sanjay zu. »Als ich dann älter wurde, haben sich die Briefe verändert. Statt ihr von meinem Leben zu erzählen, habe ich ihr alle möglichen Fragen gestellt. Ob sie lockiges Haar hat? Ob sie gern Kreuzworträtsel löst? Warum sie mich nicht behalten hat?« Asha schüttelt den Kopf. »So viele Fragen. Und jetzt weiß ich Bescheid«, fährt sie fort. »Ich weiß, wo ich herkomme, und ich weiß, dass ich geliebt wurde. Ich weiß, dass ich verdammt viel besser dran bin, als ich es anderenfalls wäre.« Sie zuckt die Achseln. »Und das genügt mir. Einige andere Antworten muss ich eben für mich selbst herausfinden.« Sie holt tief Luft. »Weißt du, ich habe ihre Augen.« Asha lächelt, und ihre Augen glitzern jetzt. Sie legt den Hinterkopf an die Rückenlehne ihrer Sitzbank. »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, sie wissen zu lassen, dass es mir gut geht, ohne … mich in ihr Leben zu drängen.«
Der Kellner kommt und bringt die Suppe. Asha merkt, wie hungrig sie ist, nachdem sie in den letzten Tagen nach der durchgearbeiteten Nacht und der Einäscherung ihres Großvaters nur sehr wenig gegessen hat. Sie kostet die Suppe. Sie essen eine Weile schweigend.
»Als ich in dem Waisenhaus war, habe ich erfahren, dass meine Großmutter der Einrichtung eine große Spende gemacht hat, nach meiner Adoption«, sagt Asha. »Unser Familienname steht auf einem Schild, das draußen hängt, und sie hat mir nie was davon erzählt. Ist das nicht seltsam?«
Sanjay zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf. »Nein, finde ich nicht. Für mich ist das ganz einleuchtend. Sie hat damit eine Dankesschuld bezahlt.« Als er ihre verständnislose Miene sieht, beugt er sich vor und sagt: »Für dich . Sie war dankbar für dich.«
Asha blickt nach unten auf ihre Hände. »Wirklich?«
»Absolut. So was ist hier durchaus üblich. Mein Großvater hat in seinem Heimatdorf einen Brunnen bauen lassen, um sich allen erkenntlich zu zeigen, die ihm geholfen haben.«
Asha atmet tief ein. »Es haut mich irgendwie um, wenn ich daran denke, was Menschen im Laufe der Jahre alles für mich getan haben, wovon ich größtenteils keine Ahnung hatte und vielleicht noch immer keine Ahnung habe. Ich bin ein Produkt von alldem – von all den Bemühungen, all den Menschen, die mich geliebt haben, bevor sie mich überhaupt kannten.«
Sanjay lächelt. »Das nennt man Familie.«
»Weißt du, ich glaube, ich habe es meinen Eltern immer irgendwie übel genommen, dass zwischen uns keine biologische
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