Geheime Tochter
wenn, ich will nicht, dass sie mit deinem Körper rumexperimentieren. Schatz, sieh dir doch bloß an, was die Sache mit dir macht. Das ist nicht gut für uns beide. Du willst doch eine Familie, oder?«
Sie nickt, gräbt sich die Fingernägel in die Handflächen, um die Tränen zurückzuhalten.
»Also, du kannst dich entweder weiter mit dem Versuch rumquälen, schwanger zu werden, bei einer äußerst niedrigen Erfolgswahrscheinlichkeit, oder wir leiern das Adoptionsverfahren an, und schon nächstes Jahr um diese Zeit könntest du ein Baby in den Armen halten.«
Sie nickt wieder, beißt sich auf die Unterlippe. »Aber würde es sich auch anfühlen wie mein Baby?«
»Hör mal, es gibt alle Sorten von Familien«, sagt er. »Blut macht noch keine Familie. Willst du im Ernst, dass unser Kind meine Riesennase oder zwei linke Hände hat?« Er lächelt, wie immer, wenn er seinen Willen durchsetzen will, aber diesmal hat sie keine Lust, so schnell klein beizugeben.
»Du wirst eine tolle Mutter sein, Somer. Du musst es einfach nur geschehen lassen.« Kris rückt näher, versucht, ihr in die Augen zu blicken, als könnte er dort eine Antwort finden. »Was denkst du?«
Was denke ich? Sie weiß es nicht mehr. »Ich denke darüber nach, okay? Es ist alles ein bisschen viel auf einmal«, sagt sie und deutet auf das Kuvert. »Ich würde jetzt gern laufen gehen, mir den Kopf ein bisschen durchpusten lassen. Okay?« Sie steht auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Somer trabt die Stufen vor dem Haus hinunter und dann in Richtung des weitläufigen Golden Gate Park. Sie hat keine große Lust zu laufen, aber sie musste einfach an die Luft. Seit Monaten redet Kris nun schon von Adoption, und sie hält ihn die ganze Zeit hin. Sie weiß, sie muss darüber nachdenken, aber es fällt ihr schwer, den Gedanken an ein eigenes Kind aufzugeben: ein Kind im Bauch haben, gebären, stillen, sich selbst im eigenen Kind gespiegelt sehen. Wie kann ich das alles aufgeben? Für Kris ist es leichter. Er ist nicht derjenige, der versagt hat.
Sie nähert sich keuchend dem Trinkbrunnen, und ihr wird klar, dass sie schon drei Meilen hinter sich hat. Normalerweise absolviert sie immer dieselbe Zwei-Meilen-Runde auf dem JFK – Drive, aber heute hat sie Lust, bis zum Ozean zu laufen. Sie bleibt am Brunnen stehen, um einen Schluck zu trinken. Er erwacht gurgelnd zum Leben und spritzt ihr dann eine Fontäne ins Gesicht. Der frühabendliche Parkverkehr zieht weiter an ihr vorbei: ein Rollerblader mit Dreadlocks, eine Gruppe mit Mountainbikes, Mütter mit Kinderwagen, Kinder auf Fahrrädern. Seit drei Jahren läuft sie diese Strecke. Seit drei Jahren versucht sie, ein Baby zu bekommen. Wenn ihre erste Schwangerschaft geklappt hätte, dann hätte sie inzwischen ein Kleinkind. Dann wäre sie eine von den Müttern, die ihrem Kind aufs Dreirad helfen.
Vorzeitige Ovarialinsuffizienz. Ihre Augen verschleiern sich, doch sie fährt rasch mit dem Ärmel darüber und läuft weiter. Sie ist erst einunddreißig, wie konnte sie so viel Zeit verstreichen lassen? Vier Jahre Medizinstudium, drei weitere für den Facharzt. Sie hat alles getan, was sie für richtig hielt. Ärztin werden war immer das Einzige, was in ihrem Leben wichtig war, bis jetzt. Wie konnte sie auch ahnen, dass ihr Körper sie im Stich lassen würde?Die Wahrheit trifft sie mit solcher Wucht wie das Wasser aus dem Trinkbrunnen. Kris hat recht. Der Arzt hat recht. Sie hat ihre Antwort erhalten, und sie kann nichts dagegen machen.
Als sie nach Hause kommt, ist Kris nicht da. Ein Zettel auf dem Couchtisch erklärt, dass er ins Krankenhaus gerufen wurde. Sie setzt sich auf den kalten Parkettboden, die Beine v-förmig ausgestreckt. Sie beugt sich nach vorn, so tief sie kann, und als sie gerade mit der Nasenspitze das Knie berührt, muss sie würgen von dem Schluchzer, der ihr in die Kehle steigt. Das Parkettmuster verschwimmt in den Tränen, die ihr in die Augen schießen. Sie lässt die tiefen, entsetzlichen Klagelaute entweichen, die direkt unter der Oberfläche lauern. Die Tränen sammeln sich unaufhörlich, ballen sich in ihr zusammen. Sie drückt sie wieder und wieder nach unten, hundertmal am Tag – jedes Mal, wenn sie die Stimme eines Kindes hört oder den kleinen Körper eines Patienten untersucht –, bis der Augenblick kommt. Es passiert immer, wenn sie am wenigsten damit rechnet, in dem Moment, wenn sie nichts Besonderes macht: die Kaffeetasse ausspült, sich die Schuhe zubindet, die Haare kämmt.
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