Geheime Tochter
Schätzchen«, sagt ihre Mutter und streichelt Somers Hinterkopf.
»Ich mache uns einen Tee«, sagt ihre Mutter, sobald sie zu Hause sind. »Und ich habe Bananenbrot gebacken.«
»Klingt gut.« Somer setzt sich in einen Windsor-Stuhl am Küchentisch.
»Kris hat also dieses Wochenende Bereitschaftsdienst? Wie schade, dass wir ihn nicht zu sehen kriegen.«
Ihre Eltern mögen Kris. Sie war unsicher, wie sie reagieren würden, als sie ihren indischen Freund mit nach Hause brachte, aber glücklicherweise begrüßten sie ihn mit offenen Armen. Ihre Eltern waren beide in Toronto aufgewachsen, während der großen Einwanderungswelle gegen Ende der 1940er Jahre, und sie hatten Nachbarngehabt, die Russisch, Italienisch und Polnisch sprachen. Sie waren schon weltoffen gewesen, bevor es modern wurde. Als Arzt war ihr Vater gleich auf einer Wellenlänge mit Kris gewesen und er hatte Hochachtung davor, dass dieser Chirurg werden wollte.
»Dein Vater wollte eigentlich abends keine Sprechstunden mehr anbieten, aber dann hat er wieder mit einmal die Woche angefangen, dann zweimal, und jetzt ist wieder alles beim Alten.« Ihre Mutter schüttelt den Kopf, während sie den Wasserkessel füllt.
Solange Somer sich erinnern kann, nutzt ihr Vater einen umgebauten Raum im Parterre des Hauses als Sprechstundenzimmer. Teils waren es Patienten, die er tagsüber in seiner Praxis behandelte und die außerhalb der regulären Sprechstunde einen Notfall hatten. Aber in der Regel waren es Leute, die sonst gar nicht zum Arzt gehen würden: neue Einwanderer ohne Krankenversicherung, minderjährige Mütter, die von ihren Eltern vor die Tür gesetzt worden waren, ältere Menschen, die sich nicht trauten, abends ins Krankenhaus zu fahren. Recht bald sprach sich herum, dass Dr. Whitmans Hauspraxis immer offen war und er von niemandem Geld verlangte, der keines hatte. Somers Kindheitserinnerungen waren voll mit irgendwelchen Leuten, die abends an der Tür klingelten, wenn sie gerade beim Essen waren oder zusammen Scrabble spielten.
»Schlag das nach, Somer«, sagte ihr Dad dann schon mal, wenn er aufstand, um zur Tür zu gehen, nachdem er ein Wort mit sieben Buchstaben gelegt hatte. »Bilde einen Satz damit, wenn ich wiederkomme.«
Manchmal fanden sie, wenn sie die Morgenzeitung von der Veranda reinholten, Präsente von dankbaren Patienten wie frisch gebackenen Kuchen oder Körbe mit Obst. Für ihren Vater war die Medizin nicht nur ein Beruf, sonderneine Berufung, die untrennbar mit seinem Leben verbunden war. Somer lernte das Metier von Kindesbeinen an. Als sie acht Jahre alt war, brachte er ihr bei, ein Stethoskop zu benutzen und ihren eigenen Herzschlag abzuhören. Mit zehn konnte sie eine Blutdruckmanschette anlegen. Es wäre ihr nie eingefallen, irgendetwas anderes zu werden als Ärztin. Ihr Vater war ihr Held. Sie sehnte sich nach den Wochenenden, an denen er in seinem braunen ledernen Ohrensessel saß und las und sie sich an ihn kuscheln konnte.
»Und bei dir, Mom? Wie läuft’s in der Bibliothek?« Somer hat die Krähenfüße um die Augen ihrer Mutter bemerkt.
»Ach, hektisch wie eh und je. Wir räumen zurzeit die Abteilung mit den Nachschlagewerken um, weil wir Platz für ein paar gespendete Möbel brauchen. Und ich bereite eine Reihe von Workshops vor, die ich im nächsten Herbst über Biografien berühmter Frauen veranstalten will: Eleanor Roosevelt, Katharine Graham.«
»Wie schön.« Somer lächelt, obwohl sie noch nie verstanden hat, warum ihre Mutter sich für einen so banalen Job begeistert.
Ihre Mutter bringt zwei dampfende Tassen zum Tisch und stellt einen Teller mit dicken Scheiben Bananenbrot dazu. »Also, was ist los, Schätzchen? Du wirkst so bedrückt.«
Somer legt die Hände um ihre Tasse und trinkt einen Schluck Tee. »Also, wir … ich … kann keine Kinder kriegen, Mom.«
»Ach, Schätzchen.« Ihre Mutter legt eine Hand auf Somers Arm. »Das kommt schon noch, hab einfach ein bisschen Geduld. Eine Fehlgeburt ist nicht so selten. Viele –«
»Nein.« Somer schüttelt den Kopf. »Ich kann keine kriegen. Wir waren bei einem Spezialisten. Ich bin in einer frühen Menopause. Meine Eierstöcke produzieren keine Eizellen mehr.« Somer sucht in den Augen ihrer Mutter nach der Erklärung, die sie nirgendwo sonst finden kann, und sieht, wie sie sich mit Tränen füllen.
Ihre Mutter räuspert sich. »Und das war’s? Ihr könnt nichts mehr tun?«
Somer schüttelt den Kopf und blickt auf ihren Tee.
»Es tut mir so leid,
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