Geheime Tochter
als die Schwangerschaft nach nur wenigen Wochen zu Ende war, redeten sie sich daher ein, dass es so am besten sei. Aber irgendwie änderte diese Überraschungsschwangerschaft, die so unerwartet wieder verschwand, wie sie gekommen war, einfach alles. Auf einmal fielen Somer überall schwangere Frauen auf, die ihre ausladenden Bäuche stolz vor sich hertrugen.
Nach der Fehlgeburt plagten sie Schuldgefühle, weil sie so hin- und hergerissen gewesen war. Als Ärztin wusste sie natürlich, dass Unentschlossenheit keine Fehlgeburt auslösen konnte. Doch in den Fachbüchern über Geburtshilfe stand kein Wort über die ungeheure Trauer, die sie nun statt des winzigen Körnchens Baby, das in ihr gewachsen war, mit sich herumtrug. Sie lieferten keine Erklärung dafür, wieso sie sich ohne etwas, von dessen Existenz sie doch nur einen Monat gewusst hatte, so unsäglich verloren fühlte. Mit dieser ersten Schwangerschaft war etwas in ihr erwacht, eine tiefe Sehnsucht, die die ganze Zeit da gewesen sein musste. Sie war zu der Überzeugung erzogen worden, dass ihr Geschlecht ihren angestrebten Zielen nicht im Weg stehen musste. Ihre ganze Ausbildung hindurch und auch in den ersten Jahren als Ärztin dachte sie, sie sei nicht wie andere Frauen. Jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal im Leben genauso wie andere Frauen.
Somer verbrachte ihre gesamte Freizeit damit, sich in medizinischen Fachzeitschriften über Fruchtbarkeit zu informieren – sie schloss mögliche Ursachen für eine Fehlgeburt aus, führte Buch über ihren Eisprung und stellte ihre Ernährung um. Sie erzählte Kris von jeder neuen Erkenntnis, bemerkte aber bald den glasigen desinteressierten Blick in seinen Augen. Er steckte noch immer in derneurochirurgischen Facharztausbildung und konnte ihren dringenden Wunsch, schwanger zu werden, nicht nachvollziehen. Zum Glück reichte Somers Entschlossenheit für sie beide, weshalb es scheinbar nicht groß ins Gewicht fiel, dass sie zum ersten Mal nicht denselben Weg verfolgten.
Jetzt, da sie allein auf dem Bordstein einer Vorstadtstraße hockt, statt blauen Punsch zu trinken, weiß Somer, dass jener Tag vor drei Jahren die Trennlinie ihres Lebens geworden ist. Vor der Fehlgeburt war sie ihrer Erinnerung nach glücklich gewesen – mit ihrer Arbeit, dem Haus mit Aussicht auf die Golden Gate Bridge, den Freunden, die sie an den Wochenenden trafen. Es schien genug. Doch seit jenem Tag hat sie das Gefühl, als würde irgendetwas fehlen, etwas, das so gewaltig und mächtig ist, dass es alles andere überdeckt. Mit jedem weiteren Jahr und jedem negativen Schwangerschaftstest ist diese Leere gewachsen, bis daraus ein unwillkommenes Familienmitglied wurde, das sich zwischen sie und Krishnan zwängt.
Manchmal wünscht sie, sie könne wieder zu dem naiven Glück ihres früheren Ehelebens zurückkehren. Aber in erster Linie sehnt sie sich danach weiterzugehen, zu einem Ort, zu dem ihr Körper sie offenbar nicht bringen will.
7
Shanti
Bombay, Indien – 1984
Kavita
Als der Fahrer des Ochsenkarrens Kavita und Rupa in der Stadt absetzt, steht die Sonne hoch am Himmel, und sie sind halb verdurstet und hungrig. Chaotischer Lärm umfängt sie: hupende Autos, schreiende Verkäufer. Auf der Straße wimmelt es von übervollen Lastwagen, Viehzeug, furchtlosen Fahrradfahrern, viel zu schnellen Rikschas und Motorrollern. Sie machen halt an einem Stand, um sich eine Kokosnuss zu teilen, trinken zuerst das Wasser und warten dann, während das zarte Kokosnussfleisch von der Schale geschnitten wird. Auf beiden Seiten ist die Straße gesäumt von notdürftigen Hütten mit Wellblechdächern; Frauen hocken davor, kochen über kleinen Feuern und schrubben Wäsche in Eimern mit dreckigem Wasser.
Rupa fragt den chaat-wallah , ob er den Weg zum Shanti-Waisenhaus kennt, doch er schüttelt bloß den Kopf und mustert die beiden Frauen mit ihren auffälligen nackten Füßen und der ländlichen Kleidung. Sie fragt einen Taxifahrer, der träge an seinem Wagen lehnt, Betelnuss-Saft auf die Straße spuckt und Kavita von oben bis unten mustert. Sie alle versuchen festzustellen, ob das Baby verunstaltet ist oder ob Kavita unverheiratet oder einfach zu arm ist, um das Kind zu behalten. Schließlich hilft ihnen ein bärtiger Mann, der an der Ecke Erdnüsse röstet. Er schaufeltdie warmen Nüsse in handgerollte Tüten aus Zeitungspapier, ruft immer wieder » singh-dhana, garam singh-dhana «, und beschreibt ihnen zwischendurch den Weg.
Rupa nimmt Kavita fest an
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