Geheime Tochter
Schritte auf sie zu, dann wird sein Gesicht weich, und er sinkt neben ihr auf die Knie. »Versteh doch, Kavita, du weißt, dass wir das Baby nicht behalten können. Wir brauchen einen Jungen, der uns auf den Feldern hilft. Wir können uns sowieso schon kaum ein Kind leisten, wie sollen wir dann zwei ernähren? Die Tochter meines Cousins ist dreiundzwanzig und noch immer nicht verheiratet, weil er die Mitgift nicht aufbringen kann. Wir sind keine reiche Familie, Kavita. Du weißt, wir können das nicht.«
Wieder werden ihre Augen feucht, und sie schüttelt den Kopf, bis die Tränen fließen. Ihr Atem beginnt zu stocken. Sie schließt fest die Augen, während sie mehrmals durchatmet. Als sie sie wieder öffnet, blickt sie ihren Mann direkt an. »Diesmal lasse ich nicht zu, dass du sie wegbringst. Niemals.« Sie drückt den Rücken durch, obwohl es schrecklich wehtut. »Wenn du es versuchst, wenn du es auch nur versuchst , musst du mich vorher töten.« Sie zieht die Knie an. Aus dem Augenwinkel sieht sie die Tür und stellt sich vor, wie sie sie in fünf Schritten erreicht. Sie zwingt sich, reglos zu bleiben, ihren wilden und entschlossenen Blick nicht von Jasu abzuwenden.
»Kavita, bitte, sei doch vernünftig. Es geht einfach nicht.« Er wirft die Hände in die Luft. »Sie wird eine Belastung für uns sein, für unsere ganze Familie. Willst du das etwa?« Er erhebt sich, baut sich wieder vor ihr auf.
Ihr Mund ist trocken. Sie stolpert über die Worte, die sie sich bisher nur in Gedanken zu bilden erlaubt hat. »Gib mir eine Nacht. Bloß eine Nacht mit meinem Kind. Morgen kannst du sie holen kommen.«
Jasu schweigt, blickt nach unten auf seine Füße.
» Bitte .« Das Hämmern in ihrem Schädel wird lauter. Sie möchte schreien, um sich durch den Lärm verständlich zu machen. »Das ist unsere Tochter. Wir haben sie zusammen geschaffen. Ich habe sie in mir getragen. Gib mir eine Nacht, bevor du sie wegbringst.« Plötzlich wird das Baby wach und schreit. Jasu blickt auf, aus seiner Trance gerissen. Kavita legt sich die Kleine an die Brust und stellt die Stille zwischen ihnen wieder her.
»Jasu«, sagt sie und zeigt ihm durch die ungewöhnliche Verwendung seines Vornamens, wie ernst es ihr ist. »Hör gut zu. Ich schwöre, wenn du mir nicht mal diese eine Nacht gewährst, sorge ich dafür, dass ich kein weiteresBaby bekommen kann. Ich werde meinen Körper zerstören, damit ich dir kein Kind mehr schenken kann. Nie wieder. Hast du verstanden? Wie stehst du dann da? Wer wird dich noch heiraten, in deinem Alter? Wer sonst wird dir deinen kostbaren Sohn schenken?« Sie starrt ihn so lange an, bis er den Blick abwenden muss.
4
Ohne große Mühe
San Francisco, Kalifornien – 1984
Somer
»Hallo, ich bin Dr. Whitman.« Somer betritt den kleinen Untersuchungsraum, in dem eine Frau versucht, ein strampelndes Kleinkind zu bändigen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Er ist seit gestern so – weinerlich, gereizt. Ich kann ihn einfach nicht beruhigen, ich glaube, er hat Fieber.« Die Frau hat einen lockeren Pferdeschwanz und trägt ein schmuddeliges Sweatshirt über einer Jeans.
»Na, dann wollen wir uns den Kleinen mal ansehen.« Somer wirft einen Blick auf die Krankenkarte. »Michael? Willst du mal meine schicke Taschenlampe sehen?« Somer knipst die Ohrenleuchte an und aus, bis das Interesse des Jungen geweckt ist und er danach greift. Sie lächelt und öffnet weit den Mund. Als der Junge sie nachmacht, steckt sie einen Zungenspatel hinein. »Isst und trinkt er normal?«
»Ja. Das heißt, ich glaube es zumindest. Ich weiß noch nicht so genau, was normal ist, wir haben ihn nämlich erst seit ein paar Wochen. Wir haben ihn mit sechs Monaten adoptiert.« Das plötzliche und stolze Lächeln der Mutter lässt beinahe die Schatten unter ihren Augen verschwinden.
»Mmm-hmm. Na, wie wär’s, kleiner Mann? Willst du mal mit diesem tollen Stöckchen spielen?« Somer gibtdem Jungen den Zungenspatel, nimmt rasch die uninteressant gewordene Ohrenleuchte und schaut ihm in die Ohren. »Und wie läuft es so bisher?«
»Er hat schnell Vertrauen gefasst, und jetzt will er ständig herumgetragen werden. Wir sind schon ein richtig gutes Team, was, kleiner Mann? Obwohl du letzte Nacht dreimal wach geworden bist«, sagt die Mutter und stupst ihm mit dem Finger in den pummeligen Bauch. »Es stimmt, was man so sagt.«
»Was sagt man denn?« Somer tastet, um zu überprüfen, ob der Junge geschwollene Lymphdrüsen hat.
»Du weißt es
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