Geheime Tochter
Facharztausbildung, und sie sprachen darüber, worauf sie sich spezialisieren wollten: Sie wollte Kinderärztin werden, er Neurochirurg. Die University of California in San Francisco bildete in beiden Fachgebieten aus, aber die Zulassungsbedingungen waren streng.
»Wie stehen unsere Chancen?«, fragte Krishnan sie.
»Keine Ahnung. In meinem Fach gibt es sechs Stellen, vielleicht fünfzig Bewerbungen? Also zehn Prozent für mich. Für dich deutlich weniger.«
»Und wenn wir uns gemeinsam bewerben würden?«, sagte er. »Als Paar. Als Ehepaar.«
Sie sah ihn an. »Ich … schätze … das würde unsere Chancen verbessern.« Sie schüttelte kurz den Kopf. »Moment, willst … du das denn?«
Er lächelte zaghaft und zuckte die Achseln. »Ja, du nicht?«
»Doch.« Sie lächelte ebenfalls. »Ich weiß, wir haben drüber gesprochen, aber jetzt?«
»Na, es ist doch sinnvoll, oder? Es ist bloß eine Frage des Zeitpunkts, wenn wir uns beide sicher sind.« Er nahmihre Hände in seine und sah ihr in die Augen. »Und ich bin mir sicher. Tut mir leid, ich habe nichts, um es offiziell zu machen. Ich weiß, das ist nicht der romantischste Heiratsantrag.« Er lächelte.
»Macht nichts«, sagte sie. »So was brauche ich nicht.«
Sie fuhren kurzerhand zum Standesamt und beschlossen, die Hochzeitsfeier nachzuholen. Sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatten, mieteten sie sich eine kleine Wohnung unweit der Uniklinik und konnten es kaum erwarten, das nächste Kapitel ihres neuen gemeinsamen Lebens aufzuschlagen.
Es klopft laut an ihrer Bürotür. »Dr. Whitman?«
»Ja.« Somer stellt das Modellherz zurück auf den Schreibtisch und steht auf. »Ich komme.«
5
Eine lange Reise
Dahanu, Indien
Kavita
Der Morgen ist kaum angebrochen, als Kavita und Rupa das Dorf verlassen. Kavitas Wunden sind frisch, und ihr Körper hat sich noch nicht wieder erholt, doch trotz der Sorgen ihrer Schwester ist sie entschlossen, die Reise auf sich zu nehmen. Gestern hat Rupa sich bereit erklärt, sie zum Waisenhaus in die Stadt zu bringen. Rupa hat in sechs Jahren bereits vier Kinder bekommen, daher suchte sie sich letztes Jahr nach der Geburt des Fünften ein Waisenhaus in Bombay. Kavita wusste Bescheid, obwohl niemand im Dorf darüber sprach. Sie hat Rupa gebeten, sie dorthin zu bringen, trotz der damit verbundenen Risiken. Selbst wenn sie die Reise und die Stadt überleben, wartet der Zorn ihrer Männer auf sie, wenn sie zurückkommen.
Es ist schon ziemlich warm, und die unbefestigten Straßen haben den meisten Regen aufgenommen, sodass nur an den Rändern ein paar verräterische Pfützen übrig geblieben sind. Auch die werden am Ende des Tages verschwunden sein, aufgesogen von den Strahlen der erwachenden Sonne. Der Weg in die Stadt könnte zu Fuß mehrere Stunden dauern, doch sie haben Glück, im nächsten Dorf nimmt sie ein Mann mit, der seine Reisernte mit einem Ochsenkarren in die Stadt bringen will. Sie sitzen hinten auf dem Karren, umgeben von Jutesäcken, und halten sich zum Schutz vor den Staubwolken,die von den Hufen der Tiere aufgewirbelt werden, die losen Zipfel ihrer Saris vor Augen und Mund. Die Straße ist holprig, und die Sonne brennt umso heißer auf sie herab, je höher sie am Himmel steigt.
» Bena , leg dich doch ein bisschen hin. Ruh dich aus«, sagt Rupa und streckt die Arme nach dem Baby aus. »Ich halte sie. Komm, gib sie ihrer masi .« Sie setzt ein schwaches Lächeln auf.
Kavita schüttelt den Kopf und blickt starr auf die Felder. Sie weiß, ihre Schwester möchte ihr den Schmerz ersparen, der sie erwartet. Rupa hat ihr erzählt, wie schwer es letztes Jahr für sie war, ihr eigenes Kind im Waisenhaus abzugeben, und das obwohl sie schon vier Kinder hatte. Sie hat Kavita anvertraut, dass sie noch immer an das Baby denken muss, wenn sie nachts wach liegt, an ihr eigen Fleisch und Blut irgendwo auf der Welt verschollen. Aber Kavita will nicht auf die wenige Zeit verzichten, die ihr noch bleibt. In Bombay wird sie ertragen, was sie ertragen muss, aber nicht vorher.
Schon als sie zusammen aufwuchsen, benahm Kavita sich mehr wie eine Erwachsene als andere Kinder. Statt in den ersten Monsungüssen ausgelassen herumzutollen, lief Kavita los, um die Wäsche von der Leine zu holen. Wenn sie am Rand eines Feldes einen Haufen geschnittenes Zuckerrohr fanden, nahm Rupa sich so viel, wie sie tragen konnte, und kaute während des ganzen Nachhausewegs auf den fasrigen Halmen. Kavita hingegen nahm nur ein Stück mit, um ihren
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