Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
Oder hat vielleicht jemand »nachgeholfen« – wurde Heß Opfer eines feigen Mords hinter Gefängnismauern? Nicht nur Heß’ Familie war und ist allzu gerne bereit, diese Version der Geschichte zu glauben. Das Mysterium Rudolf Heß gibt bis heute Rätsel auf.
»Dieser Mann, dieser Mann!«
Die Biografie von Rudolf Heß war in vieler Hinsicht typisch für seine Generation. Ungewöhnlich war lediglich, dass seine Wiege im fernen Ägypten stand, wo er 1894 als Sohn eines deutschen Kaufmanns in Alexandria geboren wurde. Wie so vielen Auslandsdeutschen – zumal im britisch geprägten Ägypten – war auch der Familie Heß ein übersteigerter Nationalismus eigen: »Deutscher als deutsch« wollte man sein. Eher widerwillig ließ sich der junge Heß auf den Lebensweg ein, den der gestrenge Vater für ihn vorgesehen hatte. Statt eines Ingenieurstudiums bedeutete das den Besuch einer Handelsschule – und in ruhigen Zeiten wäre wohl auch ein braver Kaufmann aus ihm geworden.
Jetzt geben nicht Kaufleute, jetzt geben Soldaten die Befehle!
Heß zu seinem Vater, August 1914
Doch die Zeiten waren stürmisch. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und die Völker Europas im Taumel nationaler Begeisterung ins Feld zogen, war das auch für den zwanzigjährigen Heß die entscheidende Wende. Gegen den Willen des Vaters meldete er sich freiwillig für den Kriegsdienst und kämpfte zunächst an der Westfront. Die Anfangsbegeisterung wich zwar bald der ernüchternden Einsicht, dass die Aussicht auf einen schnellen Sieg gegen Frankreich eine trügerische Illusion gewesen war. Zweifel aber blieben Heß fremd: »Weiterkämpfen, durchhalten – im Felde wie auch daheim«, beschwor er die Eltern 1916 auf dem Höhepunkt der Schlacht von Verdun und beschrieb, wie er »gewaltig gegen die Flaumacher« anredete. Auch die Verwundungen, die er sich an der Front zuzog, änderten an seinem Enthusiasmus nichts. Im Frühjahr 1918 wurde der inzwischen zum Leutnant beförderte Heß nach wiederholter Bewerbung zur neuen Elite der Armee versetzt, der »fliegenden Truppe«. Doch um selbst einer jener tollkühnen Helden wie Baron von Richthofen, Boelcke oder Immelmann zu werden, kam er zu spät. Erst in den letzten Tagen des Krieges eingesetzt, schoss er kein Flugzeug mehr ab und erlitt auch selbst keinen Schaden. Der Fliegerei aber sollte er treu bleiben.
Den Zusammenbruch des Kaiserreichs im November 1918 empfand er wie die meisten seiner Kameraden als nationale Katastrophe. Als die Waffenstillstandsverhandlungen mit den Westmächten aufgenommen wurden, standen die deutschen Truppen »unbesiegt« noch tief im Feindesland. Die Soldaten wussten nicht, dass General Ludendorff, der eigentliche Kriegsherr der letzten Jahre, die Niederlage längst eingestanden hatte, bevor er sich per Rücktritt aus der Verantwortung stahl. »Wir stehen nicht schlechter da als 1914«, schrieb Heß dagegen verbittert an seine Eltern, »im Gegenteil. Unsere Leute waren nur eine Zeit lang nicht mehr standhaft, infolge Hetzereien aus der Heimat und durch geschickt verfasste Flugblätter des Gegners.« Die Dolchstoß-Legende klingt darin an – die Schuldigen am »Versagen« der Heimat standen für Heß längst fest: die Linken, und bald schon auch: die Juden.
»Tollkühne Helden«: Nach einer Verwundung im Jahr 1917 und einem Flugzeugführerlehrgang im Frühjahr 1918 kam Heß zur fliegenden Truppe.
Corbis Images, London (Bettmann/ Corbis)
In München, wo der ausgemusterte Leutnant sich Ende 1918 einquartiert hatte, geriet er in den Dunstkreis einer Vereinigung, die im Vereinsregister als »Studiengruppe für germanisches Altertum« eingetragen war. Dahinter verbarg sich eine Geheimloge mit rechtsradikalen, antimarxistischen und antisemitischen Zielen, die »Thule-Gesellschaft«. In ihr bündelte sich »völkisches« Gedankengut mit gegenrevolutionären Staatsstreichplänen. Emblem der »Thule« war das Hakenkreuz, eines ihrer Ideale der »arische Mensch« – Brutkasten für ein ideologisches Verhängnis, das 14 Jahre später Deutschland von Grund auf umwälzen sollte. Heß übernahm bei der »Thule-Gesellschaft« Aufgaben als Waffenbeschaffer, Freiwilligenwerber sowie Anführer von Sabotagetrupps – und trug im Mai 1919 seinen Teil dazu bei, als Freikorps- und Reichswehrverbände die Münchner Räterepublik blutig niederschlugen.
Das Einzige, das mich hochhält, ist die Hoffnung auf den Tag der Rache, wenn er auch noch so fern ist.
Rudolf Heß, Brief vom 25.
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