Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
Juni 1919
Beruflich sagte er jetzt endgültig dem väterlichen Kontor Ade: Als Frontkämpfer durfte er auch ohne Abitur an der Universität studieren. Heß schrieb sich in Volkswirtschaft, Geschichte und Jura ein, ohne ein klares Lebensziel vor Augen zu haben. Im Hörsaal machte er eine folgenreiche Bekanntschaft: Der General a. D. und Geografie-Professor Karl Haushofer lehrte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München das Fach Geopolitik. Haushofers Thesen waren freilich eher politisches denn akademisches Programm. Sein Grundgedanke hieß: Dem deutschen Volk mangle es an »Lebensraum«. Dieser könne in Übersee, vor allem jedoch im Osten Europas gefunden werden. Wie die weitreichenden Pläne zur Revision des europäischen Staatensystems in die Tat umgesetzt werden sollten, ohne dass erneut Ströme von Blut vergossen werden mussten, darüber verlor der Professor freilich kein Wort. Heß sog die Ideen Haushofers dennoch begierig auf. Der Student wurde rasch Assistent des Professors und war bald auch privat immer häufiger zu Gast bei seinem Lehrmeister.
Kämpfer des Freikorps Epp in München,
Mai 1919. Rudolf Heß oben links.
Ullstein Bild, Berlin (Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)
Allein, der ersehnte Volkstribun, der die Massen zu fesseln verstand und die Deutschen zum Umsturz der verhassten »Ordnung von Versailles« aufstacheln würde, war Haushofer nicht. Der erschien Heß jedoch an einem Maiabend des Jahres 1920 im Münchner »Sterneckerbräu«, einem Bierkeller, in dem die »Deutsche Arbeiterpartei« ( DAP ) einen »Sprechabend« abhielt. Heß war wie gebannt. Es war sein Erweckungserlebnis. Der Redner schien ihm aus der Seele zu sprechen: der Vertrag von Versailles als Verbrechen am deutschen Volk, der »Verrat« an den Frontsoldaten, die Juden als Drahtzieher allen Übels – »dieser Mann, dieser Mann«, verkündete er noch am selben Abend atemlos stammelnd seiner späteren Ehefrau Ilse, »es sprach ein Unbekannter, den Namen weiß ich nicht mehr. Aber wenn uns jemand von Versailles befreien wird, dann ist es dieser Mann, dieser Unbekannte wird unsere Ehre wiederherstellen!«
Der Münchner Geografie-Professor Karl Haushofer
wurde für Heß zur Vaterfigur.
Ullstein Bild, Berlin (Philipp Kester)
Den Namen des Redners sollte Heß wenig später erfahren. Zwar kämpfte dieser Adolf Hitler damals erst einmal innerhalb der Splitterpartei DAP um die Macht, doch der fesselnden Gewalt seiner Rede konnte sich Heß schon damals nicht entziehen. Auch Hitler fand sofort Gefallen an dem jungen Helfer, der sich ihm wie ein Jünger anschloss. Heß war zuverlässig, kannte einflussreiche Leute, und – er konnte zuhören! Eine wichtige Eigenschaft, da Hitler es liebte, im privaten Gespräch wie in großer Gesellschaft manisch ausufernde Monologe zu führen. Die Begeisterung für den »Tribunen«, wie Heß Hitler ehrfurchtsvoll nannte, steigerte sich rasch zu ungebremstem Fanatismus. Heß entwickelte sich immer mehr zum Sekretär Hitlers – zumal als dieser 1921 die diktatorische Führung der NSDAP an sich riss. Auch sonst machte Heß sich nützlich: Er organisierte die erste »Studentische Hundertschaft« der parteieigenen Schlägertruppe SA und erwarb sich als Draufgänger bei Saalschlachten mit politischen Gegnern einen gewissen Ruhm. Zudem begann er konsequent, einen Mythos um seinen Herrn und Meister zu errichten: Er war der Erste, der Hitler zum »Führer« proklamierte.
»Dieser Mann, dieser Mann!«: Adolf Hitler (2. von links) an der Spitze einer Abordnung der NSDAP auf dem »Deutschen Tag« in Coburg, Oktober 1922.
BPK, Berlin (Heinrich Hoffmann)
Heß war auch dabei, als der solchermaßen zum Erlöser Hochstilisierte sich zum ersten Mal anschickte, Geschichte zu schreiben. Gemeinsam mit Hitler, Göring und einer Handvoll bewaffneter SA-Männer drang er am Abend des 8. November 1923 in den »Bürgerbräukeller« ein, wo die bayerische Landesregierung eine Versammlung abhielt. »Hitler sprang auf einen Stuhl«, so seine Schilderung, »wir Begleiter folgten, wir verlangten Ruhe, sie trat nicht ein. Hitler gab einen Schuss in die Luft ab – das wirkte. Hitler verkündete: ›Soeben ist die nationale Revolution in München ausgebrochen; die ganze Stadt wird im gleichen Augenblick von unseren Truppen besetzt.‹«
Er ist wie so viele seiner Generation nach 1918 in eine tiefe persönliche Krise gestürzt und hat versucht, eine Ideologie und auch eine Person zu finden, an die er sich binden
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