Geheimnisvoll und unwiderstehlich
Nacht, als er vergeblich Schlaf gesucht hatte, hatte ihn Toms Gesicht verfolgt, so wie es von den Fotos auf ihn herablächelte. Tom war ein ausgesprochen gut aussehender Mann gewesen – schlank, viril, sportlich und hochintelligent. Er war ein ausgezeichneter Bergsteiger gewesen, aber es gab noch etwas, das ihn auszeichnete, nämlich sein Humor. In scheinbar ausweglosen Situationen war es immer Toms Humor gewesen, der sie aus Notlagen gerettet hatte.
Ihr Leben war eine ununterbrochene Reise gewesen – von einem exotischen Ort der Welt zum nächsten. Bis Tom sich dann in ein Supermodel verliebt hatte, das seine Liebe auch noch erwidert hatte. Seinetwegen hatte sie sogar ihre Karriere geopfert, um ihm zu zeigen, was Glück wirklich bedeutete.
Toms Leben war perfekt gewesen – doch dann hatte Hal seinen Freund sterben sehen müssen.
Er war so sauer auf Tom! Auf sich selbst! Auf die Absurdität des Lebens!
Nur eins motivierte ihn jetzt noch – er war fest entschlossen, das Vermächtnis seines Freunds unter allen Umständen zu bewahren.
Er hatte Poppy versprochen, sich um die Gala zu kümmern, und das würde er auch tun. Nicht nur das – er würde alles geben, um daraus einen Erfolg zu machen.
Im Laufe der Nacht, als er nicht schlafen konnte, war ihm der Gedanke gekommen, dass Poppy den gesamten Verlauf – inklusive ihrer überstürzten Reise nach Florenz – von langer Hand geplant hatte. Sie hatte genau gewusst, dass er dieses Angebot nicht ablehnen konnte. Aber vielleicht war Arbeit in diesem Moment für ihn ja auch genau die richtige Therapie.
Hal verspürte plötzlich einen kleinen Krampf in seinem rechten Oberschenkel und zuckte zusammen. Die Schmerzen waren inzwischen seine ständigen Begleiter, und beinahe hatte er sich bereits daran gewöhnt. Er rückte seine Krücke zurecht, beugte sich nach vorn und massierte seinen Oberschenkel, bis sich der Krampf wieder gelegt hatte.
Arbeit – das war es jetzt, was ihn auf andere Gedanken bringen würde. Auf der Basis von Poppys Notizen hatte er bereits einen kleinen Ordner angelegt und damit begonnen, das gesamte Event zu kalkulieren. Jetzt war er gespannt auf die Kollektion dieser neuen jungen Designerin, die seine Schwester über den grünen Klee gelobt hatte. Bisher hatte Hal noch nicht viel gesehen – nur ein paar Zeichnungen und eine Handvoll Fotos. Er war neugierig, was hinter Mimi Ryan steckte und ob Poppy mit ihrer Einschätzung richtiglag. Deshalb hatte er auch sofort einen Termin mit Mimi ausgemacht und war jetzt auf der Suche nach Studio Designs , ihrem Label.
Doch obwohl Hal sicher war, dass er sich die richtige Adresse notiert hatte, konnte er die Location nicht finden. Das Taxi hatte ihn in diesen Vorort gebracht, und nun betrachtete er stirnrunzelnd die Reihen von Einfamilienhäusern, die die Straße rechts und links säumten. Es sah so gar nicht nach der trendigen Gegend aus, die er erwartet hatte. Hier gab es keine umgebauten Lagerhäuser mit stylishen Lofts oder teuren Boutiquen.
Hal humpelte die ruhige Straße hinunter und verglich die Nummern der Häuser mit der Adresse auf dem Zettel in seiner Hand. Es musste sich um einen Irrtum handeln, denn anstelle von Studio Designs stand er plötzlich vor einem Strickladen namens Etalia Yarns .
Gab es noch eine zweite Straße dieses Namens in einem anderen Teil Londons? Oder befand sich das Atelier möglicherweise in einem Hinterhof, und er hatte es nur übersehen? Vielleicht konnte man ihm in dem Laden ja weiterhelfen.
Ein Strickladen – nun, das war einmal etwas anderes als die Orte, an denen er sich sonst für gewöhnlich aufhielt. Aber sein Freund Tom hatte ihm beigebracht, ein Entdecker zu sein und sich in jeder neuen Umgebung zurechtzufinden. Hal hatte darin inzwischen eine Menge Erfahrung, und die sollte ihm jetzt zugutekommen.
Als Fotograf interessierte er sich immer besonders für die Details, für die kleinen Dinge, die einen Ort oder ein Porträt besonders machten. Es war ihm zur zweiten Natur geworden, diese speziellen Charakteristika auf einen Blick zu erfassen.
Daher nahm er sich jetzt auch die Zeit, den Strickladen genauer unter die Lupe zu nehmen. Er befand sich im Erdgeschoss eines recht durchschnittlichen Einfamilienhauses. Rechts und links davon gab es eine Reinigung und einen Friseur.
Der Name Etalia Yarns stand kursiv auf einer großen Schaufensterscheibe. Wahrscheinlich war der Raum dahinter früher einmal ein ganz normales Wohnzimmer gewesen.
Die Fassade
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