196 - Auf der Flucht
»Was murmelst du vor dich hin?« Erundu, Vater von Hillulu der Sehenden, kam an Durangis Seite. Besorgt musterte er den Schamanen, der in den letzten Tagen gealtert und gebrechlicher denn je erschien.
»Nichts von Bedeutung für dich«, erwiderte der Alte. »Meine Worte sind mein Gedächtnis, meine Erinnerung. Ich will sie bewahren, und das kann ich am besten, indem ich sie vor mich hinsage.«
Der jüngere Krieger konnte sein Lächeln kaum verbergen. Er war im besten Mannesalter und hatte nicht viel übrig für das Gefasel eines Greises, der sich mehr und mehr zum Kind zurückentwickelte.
Der Stamm verehrte ihn, gewiss, aber Durangis Tage als Schamane waren bald gezählt, und ein anderer würde an seine Stelle treten.
Aber das sollte er erst am Ziel der Reise erfahren. Durangi war viel zu glücklich darüber, dass die Lira Aranda endlich die Verbannung verlassen und nach Hause zurückkehren durften, nach vielen Jahrtausenden der Abgeschiedenheit. Und nach den dunklen Jahrhunderten, als die Regenbogenschlange die Sonne fraß. Auf dieses Glück hatte er ein Anrecht.
Obwohl er immer schwächer wurde, trieb Durangi den Stamm an, schneller zu wandern, als ginge es um jeden Tag. Vielleicht hatte er auch Angst, dass ihn vorzeitig die Kräfte verlassen würden. Aber darum brauchte er sich nicht zu sorgen; Erundu und die anderen würden eine Trage bauen und den Alten mitziehen. Ob lebend oder tot, Durangi würde den Sitz der Ahnen erreichen.
»So vertrottelt bin ich noch nicht, dass ich deine Herablassung nicht bemerke«, erklang Durangis erzürnte Stimme in Erundus Gedanken. »Es ist noch lange nicht so weit abzutreten! Und jetzt lass mich allein.«
Der Krieger fiel augenblicklich im Schritt zurück. Er wollte es nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. Er vergaß den Schamanen aber bald, denn auch seine Gedanken richteten sich auf den Uluru. Würde er dort die schöne schwarzhaarige Frau mit der Körperbemalung wieder sehen, die sich Aruula genannt hatte? Sie hatte den Stamm erlöst und auf den richtigen Weg geführt, aber sie war durch nichts zu bewegen gewesen, bei den Lira Aranda zu bleiben. [1] Dabei wusste Erundu, dass die Frau, auch wenn sie eine weiße Haut hatte, für ihn bestimmt war. Jede Nacht suchte sie ihn in seinen Träumen heim, und nicht selten erwachte er erregt, in dem trügerischen Glauben, heiße feuchte Frauenhaut an seiner zu spüren.
Insofern teilte er Durangis Wunsch, so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. In die alte Heimat, die einen Neubeginn bot.
Kurz vor der Dämmerung befahl Durangi, das Nachtlager aufzuschlagen. Erundu war von der Erkundung zurückgekehrt und hatte ihm gemeldet, dass sich hier in der Felsenregion, in einer Höhle, eine Zisterne voll Wasser befand. Wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, um noch einmal Vorrat zu schöpfen, bevor es durch die Steppe zum Endspurt ging.
Der Schamane stimmte zu, und der Stamm bereitete sich auf die Nacht vor, möglichst nahe an den Felsen und dem Eingang zur Höhle.
»Wo ist die Zisterne?«, fragte er den Krieger.
Erundu deutete zum Höhleneingang. »Du kannst sie nicht verfehlen, es gibt nur einen Weg. Die Sicht ist gut, das Geröll liegt lose über der Höhle. Ich habe mich allerdings nicht lange dort aufgehalten und bin gleich wieder umgekehrt.«
»Gut gemacht. Bleib hier und halte den Stamm zusammen, bis wir wissen, dass wir sicher sind. Ich werde das Wasser rituell reinigen, damit wir es unbesorgt trinken können.«
»Wir werden das Lager errichten und erwarten dich.« Erundu begleitete Durangi zum Höhleneingang und ließ ihn dann allein hineingehen.
Der Schamane atmete unwillkürlich auf, als er in das kühle, halbdunkle Innere trat.
Sämtliche Gelenke schmerzten ihn, und er fühlte das Alter schwer wie einen Felsbrocken auf sich lasten. Die feuchte Luft erfrischte ihn bald und ließ ihn die sengende Hitze draußen für einen Moment vergessen. Heiteren Sinnes erreichte Durangi die Zisterne, und das ruhige Wasser darin spiegelte im Halbdämmer die Felsen ringsum.
Der alte Schamane leckte sich die Lippen. Nur ein kleiner kühler Schluck… niemand würde davon erfahren. Dann konnte er das Ritual durchführen und den Stamm hierher bringen.
Durangi kauerte sich an den Rand der Zisterne und beugte sich über das klare Wasser. Leise kichernd betrachtete er sein faltenreiches Spiegelbild. Kaum zu glauben, dass er einst ein schneidiger junger Mann gewesen sein sollte, der die Frauen betört hatte. Die Tage schienen
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