Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
diesen Worten blieb sie vor einem schmiedeeisernen Zaun stehen, der einen Garten auf der Rückseite eines Hauses umschloss und den Blick in ein Kinderzimmer freigab: ein herrliches Zimmer, dessen Wände mit Schiffen bemalt waren und in dem ein Schaukelpferd stand und Bauklötze am Boden verstreut lagen. In diesem Zimmer konnte man eine Frausehen – Mrs Robinson –, die ein kleines Kind, vielleicht sieben Monate alt, auf der Hüfte trug. Es war ein Junge, ein munteres, strammes, gesundes Kerlchen. Grace stieß einen unterdrückten Schrei aus und betrachtete ihn mit solcher Liebe, dass es schien, als müsse allein die schiere Kraft ihrer Zuneigung ihn zu ihr herbringen.
»Ich hatte gehofft, dass wir ihn vielleicht sehen«, sagte Violet. »Meine Mutter ging manchmal vormittags hierher, einfach nur, um ihn anzuschauen und sich zu beruhigen, dass sie doch das Richtige getan hatte. Der Kleine wird von seiner Familie innig geliebt.«
Plötzlich fiel Grace etwas ein. »Aber … wen habe ich denn dann nach Brookwood auf den Friedhof gebracht?«, fragte sie gequält. »War das das tote Kind von jemand anderem?«
Violet verzog die Mundwinkel ein wenig nach oben. »Nein«, sagte sie, »das war ein Laib Brot.«
»Ein Laib Brot?«
Violet nickte. »Mutter meinte, er hätte die richtige Form und das Gewicht gehabt.« Dann konnte sie sich ein Schmunzeln doch nicht verkneifen. »Wem auch immer du dein Bündel in den Sarg gelegt hast, er hat nun einen Laib Brot dabei, um sich im Paradies zu verköstigen.«
Grace wandte sich wieder dem Fenster des Kinderzimmers zu und schaute gebannt den kleinen Jungen an, der jetzt mit seiner Mutter auf dem Boden saßund mit den Bauklötzen spielte. Man konnte tatsächlich sehen, dass er sehr geliebt wurde und diese Liebe erwiderte.
Sie seufzte tief. Es würde einiges zum Nachdenken geben in den kommenden Monaten, und viele Entscheidungen würden zu treffen sein. Sie musste eine neue Bleibe für sich und Lily finden, alles, was sie nur konnte, für Lily tun, für sich selbst entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, und wie es wohl zwischen ihr und James weitergehen würde. Dies hier aber war zumindest eine Sache, über die sie sich nicht den Kopf zerbrechen musste.
»Ich würde ihn nicht aus seiner Familie reißen wollen«, sagte sie zu Violet, den Blick immer noch auf den Jungen gerichtet. »Das brächte ich nicht übers Herz.«
Violet drehte sich zu ihr. »Ich hatte so gehofft, dass du das sagen würdest. Aber bist du auch ganz sicher? Du musst dich nicht jetzt gleich entscheiden.«
»Ich bin mir sicher.« Grace nickte. »Ich brauche nicht mehr Zeit. Es wäre grausam, ihn dort wegzuholen und dabei mindestens drei Herzen zu brechen.«
Violet, der jetzt selbst Tränen in den Augen standen, nahm Graces Hand und drückte sie. »Ich bin überzeugt, dass du eine gute Entscheidung getroffen hast, und dass es die richtige ist.«
»Ich möchte nicht, dass meinem Kind schon so früh im Leben das Herz gebrochen wird.«
»Ich glaube nicht, dass du das je bereuen wirst«, sagte Violet, immer noch Graces Hand haltend.
»Aber vielleicht können wir beide, du und ich, ab und an einmal einen Spaziergang hierher machen und … «
»Die hübschen Gärten bewundern!«
»Genau, die hübschen Gärten bewundern«, bekräftigte Grace.
Die beiden Mädchen sahen einander an, und dann bot Violet Grace ihren Arm an und sie gingen weiter.
ANMERKUNGEN DER AUTORIN
ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
DIE LONDON–BROOKWOOD
NEKROPOLIS-EISENBAHN
Gegen Ende der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts forderte eine Choleraepidemie in London nahezu 15 000 Todesopfer und verschärfte damit auf drastische Weise die Knappheit an Beerdigungsplätzen in der Stadt. Schon seit längerem war die Bestattung der Londoner Toten zu einem Problem geworden, da die Kirchenfriedhöfe überfüllt waren, so dass Grabstellen mehrfach umgegraben und wiederbenutzt werden mussten. Da Einäscherung damals noch nicht üblich war, entstand die Idee, außerhalb Londons einen riesigen Friedhof anzulegen, auf dem über viele Jahre hinaus ausreichend Grabplätze für die Londoner zur Verfügung stehen würden.
Der dafür gewählte Ort lag in der Grafschaft Surrey (weit genug von London entfernt, um die Gesundheit der Städter nicht zu gefährden) und war bequem und gegen einen geringen Fahrpreis mit der Eisenbahn zu erreichen. Zunächst gab es Bedenken gegen das Projekt. Der Bischof von London beispielsweise fand,
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