Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
verspürte ein unwillkürliches Bedürfnis, die Hand der Frau abzuschütteln, wusste aber, dass das sehr unhöflich gewirkt hätte.
»Womöglich erscheint es dir wenig feinfühlig, dass ich dich einfach auf so etwas anspreche, aber ich muss dir sagen, dass ich mir dich in einer solchen Stellung ideal vorstellen könnte.«
Grace war noch immer sprachlos vor Verblüffung.
»Du bist noch jung und siehst aus, als hättest du bereits alle Traurigkeit der Welt kennengelernt. Du würdest eine perfekte Sargbegleiterin abgeben!« Da Grace nicht widersprach, fuhr die Frau fort: »Das Beerdigungsgeschäft blüht, meine Liebe. Wir suchen ständig nach Gesichtern wie deinem. Du könntest bei uns wohnen, ein Mitglied der Unwin-Familie werden.«
Grace schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber … «
»Du würdest fünf Shilling pro Beerdigung verdienen, und wenn gerade keine Beerdigung ansteht, könntest du den Mädchen in der Schneiderei beim Ausstatten der Särge helfen. Mit so einem tragischen Gesichtsausdruck wie deinem wärst du bei Oberschicht-Beerdigungen
absolut
gefragt.«
Grace schauderte einen Moment lang bei dem Gedanken. »Es tut mir leid«, sagte sie erneut. »Ich lebe mit meiner Schwester zusammen und könnte sie unmöglich allein lassen. Und mein Dasein als Sargbegleiterin zu fristen, erscheint mir doch recht elend.«
»Aber es ist doch wundervoll, anderen Menschen Trost zu spenden!«, rief Mrs Unwin aus. »Es ist sogar unsere Christenpflicht, dies zu tun, so sich uns die Gelegenheit dazu bietet.«
Grace schüttelte erneut den Kopf. »Ich könnte so etwas nicht, aber vielen Dank für das Angebot.«
»Wie du meinst«, sagte Mrs Unwin und zog eine kleine Karte aus ihrem schwarzen Samtmuff. »Solltest du es dir je anders überlegen … «
Grace nahm die Visitenkarte entgegen und bedankte sich mit einem Knicks. Wie seltsam es doch war, nun schon die zweite Visitenkarte an einem Tag zu erhalten, wo sie vorher nie eine in der Hand gehabt hatte. Diese hier war schwarz umrandet wie eine Beileidskarte, und darauf stand in Prägedruck:
Unwin Bestattungsunternehmen
Einem guten Tod gebührt eine gute Beerdigung.
Diskretion ist unser Motto.
Maple Mews, Marble Arch, London
Der bläulich schwarze Zug kam endlich von seinem Rangiergleis herein und hielt unter heftigem Gequalme vor dem Bahnsteig an. Mrs Unwin segelte mit wehenden Röcken davon, während Grace in den Wagen der dritten Klasse stieg, sich setzte und die Frau im nächsten Augenblick bereits vergessen hatte.
Der Zug fuhr mit einem Ruck an und nahm allmählich seine rhythmische Fahrt auf. Grace seufzte vor Erleichterung, dass alles genau so verlaufen war, wie die Hebamme ihr prophezeit hatte. Sie schloss die Augen und trieb den Zug im Geiste zu rascher Fahrt an, um möglichst schnell zu Hause bei Lily zu sein. Oh, hoffentlich war ihre Schwester ohne sie gut zurechtgekommen …
MORRELLS PFANDLEIHE
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Immer für Sie da, wenn Sie Hilfe brauchen.
Kapitel 5
Die Mieter von Mrs Macreadys Haus bildeten eine kunterbunte Schar. Das Dachgeschoss war nur mit einer dünnen Bretterwand in zwei Räume unterteilt, in denen je ein Ehepaar wohnte. Beide Männer waren Straßenhändler mit einem eigenen Stand, ihre Frauen halfen ihnen beim Verkauf. Einer war auf billigen Fisch spezialisiert – Heringe, Sprotten und Wellhornschnecken –, der andere verkaufte Äpfel oder Kartoffeln, je nach Angebot der Saison. Wenn ihnen faulige oder minderwertige Ware übrig blieb, so teilten sie diese mit den anderen Mietern, die immer mehr als dankbar dafür waren.
Ein Stockwerk unterhalb, im dritten Stock, wohnte Mr Galbraith, der zu den ungewöhnlichsten Nachtzeiten kam und ging, immer in kompletter Abendgarderobe. Im Zimmer neben ihm hausten die Cartwrights,eine irische Familie mit einer sieben- oder achtköpfigen, lärmenden Kinderschar. Die Cartwrights arbeiteten als Streichholzverkäufer, Zigarrenstummelsammler, Botenjungen und der jüngste, ein Zweijähriger, als Lockvogel. Er zog die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, indem er schluchzend vorgab, seine Mama verloren zu haben, während seine älteste Schwester jenen mitfühlenden Seelen, die stehen blieben, um ihm zu helfen, mit geschickten Fingern die Manteltaschen leerte. Grace und Lily hatten ein kleines Zimmer im zweiten Stock für sich, neben einem gebrechlichen alten Ehepaar, Mr und Mrs Beale, die beide halb
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