Gehen (German Edition)
Klosterneuburgerstraße sind, veranlaßt Oehler zur Fortsetzung seiner Bemerkungen über das Kindermachen. Einen Menschen machen, von dem man weiß, daß er das Leben, das man ihm gemacht hat, nicht haben will, sagt Oehler, denn daß kein Mensch sein Leben,das ihm gemacht worden ist, haben will, stellt sich früher oder später, aber mit Sicherheit bei jedem Menschen, bevor es diesen Menschen nicht mehr gibt, heraus, einen solchen Menschen machen, ist tatsächlich verbrecherisch. Die Menschen reden sich in ihrer als Hilflosigkeit getarnten Niedrigkeit nur ein, sagt Oehler, sie wollen ihr Leben haben, während sie in Wirklichkeit niemals ihr Leben haben wollen, weil sie nicht an der Tatsache, daß sie nichts mehr verabscheuen, als ihr Leben und im Grunde nichts mehr, als ihre verantwortungslosen Erzeuger, haben sich diese Erzeuger sich ihren Erzeugten schon entzogen oder nicht, weil sie an dieser Tatsache nicht zugrunde gehen wollen. Diese unglaubliche Lüge reden sich alle diese Leute ein, sagt Oehler, Millionen reden sich diese Lüge ein. Sie wollen ihr Leben haben, sagen sie, bezeugen sie tagtäglich in der Öffentlichkeit, aber die Wahrheit ist, sie wollen ihr Leben nicht haben. Kein Mensch will sein Leben haben, sagt Oehler, jeder hat sich mit seinem Leben abgefunden, aber haben will er es nicht, hat er einmal sein Leben, sagt Oehler, muß er sich vormachen, daß ihm sein Leben etwas sei, aber in Wirklichkeit und in Wahrheit sei es ihm nichts als entsetzlich. Nicht einen einzigen Tag ist das Leben wert, sagt Oehler, wenn Sie sich nur die billige Mühe machen, diese Hunderte von Menschen in dieser Straße anzuschauen, wenn Sie Ihre Augen offen haben, wo Menschen sind. Wenn Sie nur ein einzigesmal mit offenen Augen durch diese Straße, durch diese vor Kindern übergehende Straße gehen, sagt Oehler. So viel Hilflosigkeit und so viel Fürchterlichkeit und so viel Erbärmlichkeit, sagt Oehler. Die Wahrheit ist nichts anderes, als was ich hier sehe: erschreckend. Daß so viel Hilflosigkeit und so viel Unglück und so viel Erbärmlichkeit überhaupt möglich ist, sagt Oehler, frage ich mich. Daß die Natur so viel Unglück und so viel Entsetzenssubstanz erzeugen kann. Daß die Natur so viel Rücksichtslosigkeit gegen ihre hilflosesten und bedauernswertesten Geschöpfe produzieren kann. Diese grenzenlose Leidenskapazität, sagt Oehler.Dieser grenzenlose Einfallsreichtum zum Erzeugen und zum Aushalten von Unglück. Diese tatsächlich allein hier in dieser Straße in die Tausende gehende Übelkeit des Einzelnen. Verständnis- und hilflos müssen Sie zuschauen, sagt Oehler, wie tagtäglich haufenweise neues und immer noch größeres Menschenunglück gemacht wird, so viel Menschenhäßlichkeit und Menschenabscheulichkeit, sagt er, jeden Tag, mit einer Regelmäßigkeit und mit einer Stumpfsinnigkeit ohnegleichen. Sie kennen sich selbst, sagt Oehler, wie ich mich selbst kenne, so sind auch alle diese Menschen, nichts anderes als wir, doch nur unglücklich und hilflos und von Grund auf verloren. Er, Oehler, sei, radikal gesprochen, für das langsame totale Aussterben der Menschheit, wenn es nach ihm ginge, kein Kind mehr, nicht ein einziges und also kein Mensch mehr, keinen einzigen, die Welt stürbe langsam aus, sagt Oehler, immer weniger Menschen, schließlich nurmehr noch ein paar Menschen, schließlich überhaupt keine Menschen, überhaupt kein Mensch mehr. Aber das, was er gerade gesagt habe, die Erde nach und nach aussterben und die Menschen nach und nach auf die natürlichste Weise verringern und schließlich gänzlich abkommen zu lassen von der Erde, sei nur der Auswuchs eines schon gänzlich und auf die totalste Weise nurmehr noch mit dem Denken zusammenarbeitenden Gehirns und, so Oehler darüber wörtlich, ein Un sinn. Freilich, eine nach und nach aussterbende, schließlich vollkommen menschenlose Erde wäre doch wahrscheinlich das Schönste, sagt Oehler. Darauf, dieser Gedanke ist naturgemäß Un sinn. Das ändert aber doch nichts an der Tatsache, sagt Oehler, daß Sie Tag für Tag völlig verständnislos zusehen müssen, wie immer mehr Menschen mit immer mehr Unzulänglichkeit und mit immer mehr Unglück gemacht werden, die nichts, als die gleiche Leidenskapazität und die gleiche Fürchterlichkeit und die gleiche Häßlichkeit und Abscheulichkeit wie Sie selbst sind und mit den Jahren zu einer immer größeren Leidenskapazität und Fürchterlichkeit und Häßlichkeitund Abscheulichkeit werden. Der gleichen Ansicht
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