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Gehen (German Edition)

Gehen (German Edition)

Titel: Gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Zustände, so Karrer zu Oehler. Und wenn man so lange in einer solchenStraße ist, so lange, daß man die Entdeckung, daß man alt geworden ist, schon hinter sich hat, kann man naturgemäß nicht mehr weggehn, in Gedanken ja, aber in Wirklichkeit nein, aber in Gedanken weggehn und nicht in Wirklichkeit, bedeutet doppelte Qual, so Karrer. Über vierzig sind selbst die Willenskräfte schon so geschwächt, daß es sinnlos ist, auch nur den Versuch zu machen, wegzugehn. Eine Straße wie die Klosterneuburgerstraße ist für einen Menschen wie ich in meinem Alter eine festverschlossene Gruft, in die herein man nichts mehr anderes hört als Entsetzliches, so Karrer. Mehrere Male soll Karrer das Wort bösartiger Absterbensprozeß ausgesprochen haben, mehrere Male das Wort Frühruin. Wie ich diese Häuser gehaßt habe, soll Karrer gesagt haben, und doch in diese Häuser immer wieder mit einer lebenslänglichen Anhänglichkeit hineingegangen bin, die nichts als nur deprimierend ist. Alle diese Hunderte und Tausende von geisteskranken Menschen, die in diesen Jahren aus diesen Häusern herausgestorben sind, so Karrer. Diese kopflose Bevölkerungsvermehrung, die wir hier beobachten können und die die abstoßendste in Europa ist, so Karrer. Auf jeden aus diesen grauen, verfallenen Häusern herausgestorbenen entsetzlichen Menschen, werden zwei oder drei neue entsetzliche Menschen in diese Häuser hineingemacht, soll Karrer zu Oehler gesagt haben. Wochenlang gehe ich nicht mehr in den rustenschacherschen Laden hinein, hat Karrer noch einen Tag, bevor er in den rustenschacherschen Laden hineingegangen ist, gesagt, sagt Oehler. Es ist eine Zeit, in welcher man um dreißig oder um wenigstens zwanzig Jahre jünger sein müßte, um sie auszuhalten, so Karrer zu Oehler. Eine solche Künstlichkeit habe es noch niemals gegeben, eine solche Künstlichkeit mit einer solchen Natürlichkeit, für welche man aber nicht über vierzig Jahre alt sein dürfe. Wohin Sie schauen, Sie schauen in nichts als in Künstlichkeit hinein, so Karrer. Vor zwei, drei Jahren ist diese Straße noch nicht von einer solchen mich erschreckenden Künstlichkeit gewesen, so Karrer. Erklärenkann ich aber diese Künstlichkeit nicht, so Karrer. Wie ich nichts mehr erklären kann, so Karrer. Schmutz und Alter und absolute Künstlichkeit, so Karrer. Sie mit Ihrem Ferdinand Ebner, so Karrer immer wieder, ich mit meinem Wittgenstein zuerst, dann Sie mit Ihrem Wittgenstein und ich mit meinem Ferdinand Ebner, so Karrer. Wenn man dazu auch noch auf einen weiblichen Menschen, meine Schwester, angewiesen ist, so Karrer. Sich aber nach jahrelanger Abwesenheit aufeinmal wieder allen diesen Menschen (im Obenaus) zu stellen, ist fürchterlich, so Karrer. Wenn Sie aufeinmal wieder in ihren Schmutz hineingezerrt werden, so Karrer. In den in dreißig Jahren zweifellos vergrößerten Schmutz, so Karrer. Nach dreißig Jahren ist es ein viel schmutzigerer Schmutz als vor dreißig Jahren, so Karrer. Ist um mich herum Ruhe, ist in mir Unruhe, eine immer größere Unruhe in mir, eine immer größere Ruhe um mich herum und umgekehrt, so Karrer. Wenn ich im Bett liege, vorausgesetzt, daß meine Schwester Ruhe gibt, daß sie nicht gegen mich in ihrem Zimmer auf- und abgeht, so Karrer, daß sie nicht, wie das ihre Gewohnheit ist, gerade dann, wenn ich mich hingelegt habe, alle Kasten aufmacht, alle Kommoden und plötzlich alle diese Kasten und Kommoden ausräumt, denke ich darüber nach, was ich an dem vergangenen Tag gedacht habe, so Karrer. Ich mache die Augen zu und lege meine flachen Hände auf die Bettdecke und verfolge den ganzen vergangenen Tag mit großer Intensität, so Karrer. Mit einer sich immer noch steigernden, einer immer noch zu steigernden Intensität, so Karrer. Die Intensität ist immer noch mehr zu steigern, kann sein, einmal überschreitet diese Übung die Grenze zur Verrücktheit, darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen, so Karrer. Die Zeit, in welcher ich Rücksicht genommen habe, ist vorbei, ich nehme keine Rücksicht mehr, so Karrer. Der Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich dann befinde, so Karrer, ist ein durch und durch philosophischer Zustand.

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