Gehen (German Edition)
geohrfeigt haben, sagt Karrer in einem mich erschütternden Ton, sagt Oehler. Als ob Hollensteiners Tod ihm die ganze menschliche, oder besser unmenschliche Szene verfinstert hätte. Wie sie deine Mutter zusammengeschlagen haben und wie sie deinen Vater zusammengeschlagen haben, sagt Karrer, sagt Oehler. Diese Hunderte und Tausende von Sommer und Winter festverschlossenen Fenstern, sagt Karrer, so Oehler und sagt es so ausweglos wie nur möglich. Diese Tage vor dem Aufsuchendes rustenschacherschen Ladens werde ich nicht mehr vergessen, sagt Oehler, wie sich der Zustand Karrers tagtäglich verschlimmerte, wie sich alles immer noch mehr verdüsterte, von dem man glaubte, es sei schon gänzlich verdüstert. Dieses Aufschreien und dieses Niederfallen und dieses Schweigen in der Klosterneuburgerstraße, das auf dieses Aufschreien und Niederfallen folgte, so Karrer, sagt Oehler. Und dieser fürchterliche Schmutz! sagt er, als wenn es nichts anderes mehr auf der Welt für ihn gegeben hätte als Schmutz. Gerade die Tatsache, daß in der Klosterneuburgerstraße alles immer so gewesen ist wie es ist und daß man, dachte man daran, immer befürchten mußte, daß es immer dasselbe bleiben wird, so Karrer, sagt Oehler, hatte ihm nach und nach die Klosterneuburgerstraße zu einem unerhörten und unauflösbaren Problem gemacht. Dieses Aufwachen in der Klosterneuburgerstraße und dieses Einschlafen in der Klosterneuburgerstraße , sagte Karrer immer wieder. Dieses unaufhörliche Aufundabgehen in der Klosterneuburgerstraße. Diese eigene Hilflosigkeit und Unbeweglichkeit in der Klosterneuburgerstraße. In den letzten beiden Tagen hatten sich diese Sätze und Fetzen von Sätzen ununterbrochen wiederholt, sagt Oehler. Wir besitzen keinerlei Fähigkeit, aus der Klosterneuburgerstraße wegzugehn. Wir haben keine Entschlußkraft mehr. Was wir tun, ist nichts. Was wir einatmen, ist nichts. Wenn wir gehen, gehen wir von einer Ausweglosigkeit in die andere. Wir gehen und gehen immer in eine noch ausweglosere Ausweglosigkeit hinein. Weggehn, nichts als weggehn , sagte Karrer, so Oehler, immer wieder. Nichts als weggehn. Die ganzen Jahre habe ich gedacht, etwas und das heißt alles ändern und aus der Klosterneuburgerstraße weggehn, aber es hat sich nichts geändert (weil er nichts geändert hat), so Oehler, und er ist nicht weggegangen. Wenn man nicht früh genug weggeht , sagte Karrer, ist es aufeinmal zu spät und man kann nicht mehr weggehn. Aufeinmal ist klar, man kann tun, was man will, man kann nicht mehr weggehn.Dieses Problem, nicht mehr weggehn zu können, nichts mehr verändern zu können, beschäftigt einen dann das ganze Leben , soll Karrer gesagt haben, und mit nichts anderem beschäftigt man sich dann. Dann wird man immer hilfloser und immer schwächer und sagt sich nurmehr immer, man hätte früh genug weggehn sollen, und fragt sich, warum man nicht früh genug weggegangen ist. Wenn wir uns aber fragen, warum wir nicht weggegangen sind und zwar früh genug weggegangen sind, was heißt, weggegangen sind in dem Augenblick, in welchem es die höchste Zeit gewesen ist, wegzugehn, verstehen wir nichts mehr, so Karrer zu Oehler.
Oehler sagt: Weil wir nicht intensiv genug an Verändern gedacht haben, wo wir doch tatsächlich immer intensiv an Verändern hätten denken sollen und auch tatsächlich intensiv an Verändern gedacht haben, aber nicht intensiv genug, weil wir einfach nicht auf die unmenschlichste Weise intensiv daran gedacht haben, etwas und das heißt, vor allem uns zu verändern, uns zu ändern und dadurch alles zu ändern, so Karrer. Die Umstände waren immer solche gewesen, die es uns unmöglich gemacht haben. Die Umstände sind alles, wir sind nichts, so Karrer. In was für Zuständen und Umständen ich mich die ganzen Jahre überhaupt nicht verändern habe können, weil es sich um solche nicht zu verändernde Zustände und Umstände handelte, so Karrer. Vor dreißig Jahren, wie Sie, Oehler, nach Amerika gegangen sind, wenn auch unter den fürchterlichsten Umständen, wie ich weiß, soll Karrer gesagt haben, hätte ich aus der Klosterneuburgerstraße weggehen sollen, aber ich bin nicht weggegangen; jetzt empfinde ich diese ganze Erniedrigung als eine geradezu entsetzliche Bestrafung. Dieses ganze Leben sei aus nichts anderem als aus fürchterlichen, gleichzeitig ständig furchterregenden Umständen (als Zuständen) zusammengesetzt und nimmt man es auseinander, zerfällt es in lauter fürchterliche Umstände und
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