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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Deaver
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arbeiten müssen. Und seine gelegentlichen Verstimmungen hätten nicht im Entferntesten den depressiven Anwandlungen eines potenziellen Selbstmordkandidaten geähnelt. Er war nie wegen geistiger oder seelischer Erkrankungen in Behandlung gewesen und nahm keine Antidepressiva. Creeleys Finanzen waren solide. Er hatte weder sein Testament noch seine Lebensversicherung geändert. Sein Partner Jordan Kessler war auf Geschäftsreise und besuchte die Firma eines Kunden in Pennsylvania. Er und Sachs hatten jedoch kurz miteinander telefoniert. Nach seiner Auffassung hatte Creeley seit einer Weile durchaus deprimiert gewirkt, habe dabei aber nie von Selbstmord gesprochen.
    Sachs war als Tatortermittlerin dauerhaft Lincoln Rhyme zugeteilt worden, aber sie wollte nicht nur für die Spurensicherung arbeiten. Aus diesem Grund hatte sie bei der Abteilung für Kapitalverbrechen darauf gedrungen, die Leitung eines Mordfalls oder die Untersuchung eines Terrorverdachts übernehmen zu können. Jemand
im Big Building war zu dem Schluss gelangt, Creeleys Tod rechtfertige eine genauere Überprüfung, und gab ihr den Fall. Doch abgesehen von der allgemeinen Ansicht, dass Creeley nicht zum Selbstmord geneigt habe, konnte Sachs zunächst keinen Hinweis auf eine Straftat erkennen. Dann aber machte sie eine Entdeckung. Im Protokoll der Gerichtsmedizin stand, Creeley habe zum Zeitpunkt seines Todes einen gebrochenen Daumen gehabt, und seine gesamte rechte Hand sei daher eingegipst gewesen.
    Was bedeutete, dass er weder eine Henkerschlinge knüpfen noch das Seil am Geländer hatte festbinden können.
    Sachs hatte es ein Dutzend Mal selbst versucht. Es war unmöglich, ohne den Daumen zu benutzen. Creeley hatte sich den Bruch bei einem Fahrradunfall zugezogen, eine Woche vor seinem Tod. Womöglich hatte er die Schlinge noch davor geknüpft, aber es schien einfach nicht wahrscheinlich zu sein, dass jemand diese Art von Vorbereitungen traf, um sich irgendwann in der Zukunft umbringen zu können.
    Sachs beschloss, den Todesfall als verdächtig einzustufen und eine Mordermittlung in die Wege zu leiten.
    Doch es drohte ein schwieriger Fall zu werden. Die Faustregel lautet, dass man einen Mord entweder innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden aufklären kann oder Monate dafür benötigen wird. Die spärlichen Beweisstücke (die Flasche Whisky, von der Creeley vor seinem Tod getrunken hatte, der Brief und das Seil) hatten nichts ergeben. Es gab keine Zeugen. Der NYPD-Bericht umfasste lediglich eine halbe Seite. Der zuständige Detective hatte, wie üblich bei Selbstmorden, kaum Mühe darauf verwandt und konnte Sachs nicht mit weiteren Anhaltspunkten dienen.
    In New York, wo Creeley gearbeitet und die Familie die meiste Zeit zugebracht hatte, deutete bislang nichts auf einen möglichen Verdächtigen hin, und so blieb Amelia in Manhattan nur noch eines zu tun, nämlich ein ausführlicheres Gespräch mit Kessler zu führen, dem Partner des Toten. Im Augenblick durchsuchte sie einen der wenigen verbleibenden Orte, die eventuell Fingerzeige liefern würden: das Vorstadthaus der Creeleys, in dem die Familie sich nur selten aufhielt.
    Aber sie fand nichts. Sachs lehnte sich zurück und starrte ein halbwegs aktuelles Foto an, auf dem Creeley jemandem die Hand
schüttelte, der wie ein Geschäftsmann aussah. Die beiden standen auf dem Rollfeld eines Flughafens vor irgendeinem Firmenjet. Im Hintergrund ragten Bohrtürme und Pipelines auf. Creeley lächelte. Er wirkte nicht deprimiert – aber wer sieht auf Schnappschüssen schon niedergeschlagen aus?
    In diesem Moment knirschte es erneut, sehr nah, draußen vor dem Fenster hinter ihr. Dann noch mal, sogar noch näher.
    Das ist kein Eichhörnchen.
    Sachs zog die Glock, mit einer glänzenden Neun-Millimeter-Patrone in der Kammer und dreizehn im Magazin. Dann schlich sie leise zur Vordertür hinaus und weiter bis zur Hausecke. Sie hielt die Waffe mit beiden Händen, aber dicht neben sich (man darf sie niemals ausstrecken, wenn man um eine Ecke biegt, sonst kann sie zur Seite geschlagen werden; das wird in Filmen immer falsch dargestellt). Ein schneller Blick. An der Seite des Hauses war niemand. Amelia ging weiter und setzte die schwarzen Stiefel behutsam einen vor den anderen, denn der Weg war mit einer dicken Eisschicht überzogen.
    Sie blieb stehen und lauschte.
    Ja, da waren eindeutig Schritte. Die Person bewegte sich nur zögernd vorwärts und wollte vermutlich zur Hintertür.
    Eine Pause. Ein Schritt. Wieder

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