Gelassen durch die Trotzphase
zu brüllen. Meist warf sie sich dabei auf den Boden. Ihre Wutanfälle konnten mehrmals am Tag auftreten, und sie konnten bis zu einer Stunde dauern! Es war nicht möglich, Marlene zu besänftigen oder zu trösten. Irgendwann hörte sie erschöpft auf zu schreien. Danach spielte sie fröhlich und zufrieden, als ob nichts gewesen wäre.
Tatsächlich waren Marlenes Wutanfälle normal und altersgerecht. Sie kamen nur öfter vor, waren heftiger und dauerten länger als bei anderen Kindern. Das lag zu einem guten Teil an Marlenes Temperament. Es gehört schon eine Menge Power dazu, eine volle Stunde lang zu brüllen! Das Besondere an Marlene war, dass sie sehr genau wusste, was sie wollte. Sie hatte ihre eigenen Rituale und Regeln entwickelt. Um Wutanfälle ihrer Tochter zu vermeiden, ging ihre Familie oft darauf ein.
Marlenes Vater wollte nach Feierabend seine Ruhe haben. Marlenes Geschrei am Abend raubte ihm den letzten Nerv. Deshalb wählte er die Methode »vorbeugende Anpassung«: Er kannte Marlenes Wünsche und verhielt sich genau so, wie sie es wollte. Dasselbe machte auch Marlenes achtjähriger Bruder.
Sicher ließen sich so einige Wutanfälle umgehen. Aber das hatte Nebenwirkungen. Marlenes Weltbild bestätigte sich: »Alles dreht sich um mich. Ich kann alles bestimmen!« Wenn Vater oder Bruder ihren Wunsch nicht richtig eingeschätzt hatten, wenn sie ein neues Ritual für sich entdeckt hatte oder wenn die etwas konsequentere Mama einmal nicht auf ihren Willen einging, war das für Marlene wie ein persönlicher Angriff. Die anderen hätten wissen müssen, was Marlene wollte – meistens taten sie es doch sonst auch! Entsprechend heftig fiel der nächste Wutanfall aus.
ROTZ UND TROTZ
Wie verbreitet Wutanfälle bei den Zwei- bis Dreijährigen sind, spiegelt sich vielfach im Sprachgebrauch wider: Die Schwaben sagen »Rotz- und Trotzalter«. Im Englischen gibt es den Ausdruck »terrible two«.
... mal überraschend
Finn (2 Jahre) hatte wie Marlene täglich mehrere Wutanfälle. Anders als bei Marlene waren sie bei ihm aber nicht vorhersehbar, sondern konnten jederzeit auftreten. Wenn er seine Kartoffeln mit Soße bekam, wollte er die Soße wieder herunter haben. Wenn er ein Glas bekam, wollte er lieber einen Becher haben. Aber doch nicht den blauen Becher, sondern den roten, und dann doch lieber den gelben! Wenn Finn laufen sollte, wollte er lieber auf den Arm. Wenn er beim Einkaufen in den Kindersitz des Einkaufswagens gesetzt wurde, wollte er lieber laufen. Wenn er aus dem Auto aussteigen sollte, wollte er lieber sitzen bleiben. Immer wenn Finn nicht das bekam, was er wollte, wurde er wütend. Seine Trotzanfälle waren nicht ganz so lang anhaltend und ausgiebig wie die von Marlene, sie kamen dafür aber mindestens zehnmal am Tag vor.
Finns Eltern hatten gar keine Chance zur »vorbeugenden Anpassung« wie die Eltern von Marlene. Dafür war das, was der Kleine wollte, viel zu unberechenbar. Sie hatten aber die Möglichkeit, sein Geschrei zu beenden, indem sie ihm das gaben, was er wollte.
Finns Eltern gaben ihm einen neuen Teller mit Kartoffeln ohne Soße, wenn er »die Soße herunter haben« wollte. Wenn Finn zum Trinken nicht das Glas, sondern einen Becher haben wollte, bekam er den ebenfalls. Und dann bekam er auch noch den nächsten Becher in einer anderen Farbe. Er durfte sehr oft auf den Arm. Er wurde vom Autositz direkt in den Sitz des Einkaufswagens gehoben. Und wenn er dort nicht sitzen bleiben wollte, durfte er laufen …
Was lernte Finn daraus? »Alles muss so sein, wie ich es haben will. Wenn es mal nicht so ist, schreie ich. Dann bekomme ich doch noch das, was ich will.« Finns Trotzanfälle wurden also von seinen Eltern in ihrer Not belohnt. Er hatte deshalb überhaupt keinen Grund, damit aufzuhören.
Manchmal war es Finns Eltern nicht möglich nachzugeben, etwa wenn Finn etwas Gefährliches wollte. Dann versuchten sie ihn abzulenken, ab und zu wurden sie auch ungeduldig und laut. Aus dieser Mischung konnte Finn nichts Hilfreiches lernen.
NACHGEBEN HAT SEINEN PREIS
Es ist keine gute Idee, Ihrem Kind immer seinen Willen zu geben, wenn es wütend ist. Kurzfristig kehrt zwar die ersehnte Ruhe ein, aber Ihr Kind erlebt auf diese Weise, dass sein negatives Verhalten belohnt wird. Was Sie stattdessen tun können, lesen Sie auf den folgenden Seiten.
Mit Wutanfällen richtig umgehen
Was bringt unsere Zweijährigen so aus der Fassung? Die gute Nachricht lautet: Die Wut ist ein Beweis für den sich
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