Geliebte Nanny
schaute er für eine Sekunde hoch zu meinem Fenster. Ein letztes Mal konnte ich seine faszinierenden, braunen Augen sehen.
Nun ist er schon seit drei Wochen weg, aber mein Leben als Nanny geht weiter, nur ohne Kopftuch. Arndt ist auch wieder da. Er hatte mit dem ganzen Täuschungsmanöver, das Klodia und ich abgezogen haben, ein geringeres Problem, als sein Schwager. Er nimmt die ganze Sache ziemlich gelassen.
»Ich habe schon länger so eine Vermutung gehabt, Melissa«, gab er zu, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte. »Schließlich kenne ich Claudia. Die hat schon viel verrücktere Dinge ausgeheckt. Wenn ich nur an den Intensivkurs für Hobbydetektive denke, den sie absolviert hat, um mich heimlich im Büro zu beschatten.«
Typisch.
»Ich gebe zu, anfangs waren Sie wirklich sehr überzeugend als türkische Nanny. Aber als Sie uns dann dieses merkwürdige Menü aufgetischt haben, da kamen mir erste Zweifel an Ihrer Identität. Dass dieser Anwalt mit den fettigen Haaren nichts bemerkt hat, komisch.«
Im Übrigen zeigte Arndt sich ganz und gar nicht begeistert von der überstürzten Abreise seines Schwagers, weswegen er frühzeitig von einer Geschäftsreise aus London zurückkehren musste. »Wie kann man nur so dumm und verantwortungslos sein?«, schimpfte er, nachdem Klodia ihm davon berichtete. »Dieses eingeschnappte Verhalten ist wirklich lächerlich. Wenn der Junge zurückkommt, dann kann er was erleben. Dem gehört ordentlich der Kopf gewaschen.«
Aber David kam nicht zurück.
Jedes Mal, wenn ich an seinem Zimmer vorbeigehe, fühlt es sich an, als zerquetschte jemand mein Herz in seiner Hand. Jedes Mal, erwarte ich, dass die Tür sich öffnet und er lächelnd herauskommt.
Ich bin wieder ich. Melissa Bogner. Ohne Kopftuch, ohne türkische Altkleidersammlung, ohne Lügen. Dennoch fühle ich mich schrecklich. Ich sehe zwar so aus wie früher, aber trotzdem bin ich eine andere und das würde ich David so gerne sagen. Aber er ist weg. Ich habe ihm nie offen gestanden, dass ich ihn liebe und ich habe Angst, dass sich mir nie wieder die Chance dazu bietet.
»Hey Mel!« Yasis Stimme holt mich aus den Gedanken. Sie trabt auf mich zu, zwei Pappbecher von Starbucks in den Händen haltend.
»Herr Gott, Mel, du siehst ja immer noch aus wie ein Trauerschwan.«
»Das liegt daran, dass ich in Trauer bin. Gewissermaßen.«
»David ist nicht tot, er ist nur in den USA. Irgendwann wird er zurückkommen und mit dir reden.«
»Das glaube ich kaum!«
»Ich schon. Er kommt auf jeden Fall zurück.«
»So’n Quatsch. Warum sollte er zurückkommen zu jemandem, der ihn von vorn bis hinten belogen hat? Bestimmt hat er sich längst ein amerikanisches Collegemäuschen angelacht, spielt in der regionalen Baseball - Liga und weiß, wie man einen perfekten Thanksgiving - Truthahn zubereitet.« Um meinem Unmut Ausdruck zu verleihen, proste ich ihr fuchtig mit dem Starbucks - Becher zu, setze ihn an und nehme einen gewaltigen Schluck vom Cappuccino. Uaahhh … Kreisch! Wie konnte mir dabei entfallen, dass dieses Zeug mindestens drei Stunden braucht, um auf vertretbare Trinktemperatur zu sinken?
»Jetzt hör’ auf, ständig alles schwarz zu sehen, Mel. Wie wär’s wenn wir zur Abwechslung über meine Probleme reden und nicht immer über deine?«
»Du hast Recht. Tut mit leid.«
»Gut, kommen wir also vom Thema Trauer zu freudigeren Nachrichten.«
»Die da wären?«
»Du wirst es nicht glauben. Einmal im Leben erfülle ich meinem Vater einen Herzenswunsch.« Sie zieht eine Grimasse, die wohl ursprünglich ein gequältes Lächeln darstellen sollte.
»Na ja, wenn auch in der falschen Reihenfolge…«
»Jetzt mach es doch nicht so spannend, Yasi.«
»Also gut.« Sie holt tief Luft. Irgendwie erinnert sie mich an diese Tatort - Polizisten, die immer mit ausdrucksloser Miene vor der Haustür stehen, um die Hiobsbotschaft zu verkünden.
»Ich bin schwanger. Und ich werde…« Sie macht eine kurze Pause und schluckt schwer, bevor sie weiterredet, »…werde heiraten.«
»Du verarschst mich doch!?« Ich kann mich nicht entsinnen, jemals derart perplex über so eine – im Allgemeinen erfreuliche Bekanntmachung – reagiert zu haben. Doch aus Yasis Mund klingt es wie ein Scherz. Ein Witz. EINE VERARSCHUNG!
Als sie nach drei Minuten geduldigen Schweigens immer noch nicht anfängt, sich über ihren mutmaßlichen Scherz totzulachen, beschleicht mich ein leichtes Gefühl von Beunruhigung.
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