Geliebter Feind
PROLOG
Die hohen Fenster der alten Adelsvilla in St. Petersburg gaben den Blick frei über den Fontanka-Fluss. Der große Saal war voll mit Menschen, die zu der Gedenkfeier gekommen waren, dabei hatten viele den Verstorbenen nicht einmal gekannt. Das, was sie hierher gelockt hatte, war die Anwesenheit von Ölmagnat Nikolai Danilovich Arlov, dessen Reichtum legendär war.
Wie immer ungerührt von der Aufmerksamkeit, die er erregte, führte er gerade ein geschäftliches Telefonat. Groß und beeindruckend, mit schwarzem Haar und Augen so hart wie wasserumspülter Fels, war er ein atemberaubend attraktiver Mann, der eine extrem männliche Sinnlichkeit ausstrahlte. Viele Frauen starrten ihn mit unverhohlenem Hunger an, während seine Mitarbeiter sorgfältig darauf achteten, dass niemand ihm zu nahe kam. Nur wenige der Anwesenden erhielten überhaupt ein knappes Nicken von ihrem Gastgeber, als Zeichen, dass er sie wahrgenommen hatte. Viele jedoch würden noch wochenlang davon zehren, dass sie tatsächlich zu Gast in seinem luxuriösen Haus gewesen waren.
Nikolai ignorierte grundsätzlich jeden. Eisig wie der arktische Winter und unnachgiebig wie eine heidnische Gottheit, blieb er ein Einzelgänger, der immer nach eigenen Regeln spielte. Er hasste es, Zeit für unnütze und sinnentleerte gesellschaftliche Anlässe zu vergeuden. Einzig das Streben nach Einfluss und Profit trieb ihn an. Zum Gedenkamt für seinen Vater war er nur erschienen, um die Form zu wahren. Er hatte nie großen Wert auf familiäre Bindungen gelegt, er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er zuletzt mit dem alten Mann gesprochen hatte. Sein Vater hatte ihn praktisch seit dem Tag seiner Geburt gehasst, und seine beiden älteren Halbbrüder fürchteten und beneideten ihren erfolgreichen Anverwandten. Das hatte sie jedoch nicht davon abgehalten, Nikolai zu bitten, sich der wirren Angelegenheiten des Vaters anzunehmen und sicherzustellen, dass der Besitz erhalten blieb, ohne selbst Verantwortung für Kosten oder Anstrengungen übernehmen zu müssen. Allerdings schien niemand darauf gekommen zu sein, dass Nikolai eigene Motive für sein Einverständnis haben könnte, diese undankbare Aufgabe zu übernehmen.
Als eine blonde Schönheit in einem klassisch-eleganten Kostüm auf ihn zukam, lief ein unmerklicher Schauer durch ihn hindurch, doch es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Ein Blick auf Svetas Miene sagte ihm, dass sie die Überbringerin schlechter Nachrichten war. Die Fragen, die ihn seit seiner Kindheit quälten, würden unbeantwortet bleiben. Die Suche in den persönlichen Sachen seines Vaters hatte sich als fruchtlos erwiesen.
„Nichts.“ Ärger und Frustration schwang in Svetas Stimme mit. Wie auch ihre Kolleginnen Olya und Darya war Sveta mit nichts anderem als einem positiven Ergebnis zufrieden.
„ Nitschewo – macht nichts“, tat er es gleichgültig ab. Er sah keinen Grund, warum das Geheimnis seiner Abstammung ihm den Schlaf rauben sollte. Alle Dokumente seines Vaters waren gesichtet, Safes waren geöffnet worden, Schreibtische geleert, Schließfächer aufgespürt. Was sich zuerst den Anschein einer vielversprechenden Möglichkeit gegeben hatte, hatte nicht ein Jota an neuen Informationen gebracht. Nikolai wusste weiterhin nicht, wer seine Mutter war. Jetzt sah es so aus, als würde er es nie erfahren.
In Gedanken zuckte er mit den Achseln. Irrelevante Details für einen Mann, der wusste, wer er war und wohin er wollte. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er seine Ambitionen mehr als tausendfach erfüllt. Er musste sich für nichts entschuldigen und sich niemandem beweisen. Die Suche nach seiner Abstammung mütterlicherseits war Verschwendung wertvoller Zeit und Energie.
In diesem Moment ging ein Raunen durch den Saal. Köpfe drehten sich zum Eingang. Als man ihn informierte, dass seine aktuelle Gespielin, Brigitta Jansen, soeben aus Paris eingetroffen sei, runzelte er verstimmt die Stirn. Er erachtete ihr uneingeladenes Auftauchen als Eindringen in seine Privatsphäre. Mit einem Lächeln auf dem perfekten Gesicht kam die holländische Schauspielerin auf ihn zu, sie sonnte sich in der Bewunderung, die man ihr zollte.
Fünfzehn Minuten später war Nikolai auf dem Weg zum Flughafen, wo sein Privatjet auf ihn wartete. Allein. Brigitta hatte er mit ihrem hysterischen Anfall stehen lassen, umrundet von ihren kriecherischen Anhängern. Sollte es ihre Absicht gewesen sein, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, weil er ihr
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