Unser Sommer in Georgia
Eins
Riley
Riley Sheffield, Geschäftsführerin des Driftwood Cottage Bookstore, war der Überzeugung, dass selbst ein vollkommen unspektakuläres Leben einem guten Roman gleicht und erzählenswert ist. Dabei war ihr eigenes Leben keineswegs normal, sondern voller unerwarteter Wendungen, Geheimnisse und Überraschungen. Es wies Erzählstränge auf, die eng mit den Biografien anderer Menschen verwoben waren. Dreh- und Angelpunkt dieses Lebens war ein zweihundert Jahre altes Haus am Strand - das Driftwood Cottage. Jeden Morgen erwachte Riley in Erwartung eines neuen Tages voller Geschichten - Geschichten in den Romanen, die sie las, und Geschichten aus dem Leben ihrer Kundinnen.
Vor zwölf Jahren hatte Rileys Mutter das alte Haus gekauft und darin eine Buchhandlung eröffnet. Riley führte das Geschäft. Sie lebte mit ihrem Sohn in der Wohnung über dem Laden. Ihre Tage waren ebenso auf den Rhythmus der Gezeiten wie auf die Ebbe und Flut der Kundenströme abgestimmt. Die salzige Meeresluft mischte sich mit den Gerüchen von Tinte und Papier. Der Seewind, der durch die geöffneten Fenster hereinwehte, führte mit den knackenden Wänden und den ächzenden Bücherregalen eine Sinfonie auf. Der Sand, den Riley zwischen den Zehen spürte, schob sich auch in die Ritzen der Bodendielen, in das Gewebe der verschlissenen Polstersessel und manchmal sogar zwischen die Buchseiten.
Hinter einer Tür links von der Kasse stand Rileys Schreibtisch, halb verdeckt von Stapeln mit Antworten auf die Einladungen für die Party, die in der kommenden Woche im Buchladen stattfinden sollte. Riley drückte sich vor der langweiligen Arbeit, die Zusagen zu erfassen, indem sie sich in die Buchclub-Ecke begab, ihr Lieblingsplätzchen im Laden.
Mit einem Seufzer ließ sie die Fingerspitzen über die Buchrücken auf den krummen Regalbrettern gleiten. Die Geschichten waren alte Freunde, die sie trösteten, und auch die Kameradschaft der Frauen in den verschiedenen Lesezirkeln half ihr ein wenig über die Einsamkeit einer zweiunddreißigjährigen alleinerziehenden Mutter hinweg. Mit den Frauen über Romane und anschließend über ihre persönlichen Geschichten zu diskutieren hatte Riley für die Verletzungen sensibilisiert, die andere mit sich herumtrugen. Die Lesezirkel wirkten wie Balsam auf die schmerzhafte Sehnsucht nach Nähe.
Riley stand hinter dem Bücherregal und hörte zu, wie die Frauen vom Strandnixen-Lesezirkel sich ins Wort fielen und einander zu übertönen versuchten. Offenbar waren sie ausnahmslos davon überzeugt, dass die eigene Meinung bedeutsamer sei als die der anderen Mitglieder. Riley musste lächeln. Sie spürte, dass ein Streit drohte. Oft genug hatte sie stöbernden Kunden und Buchclub-Mitgliedern, Autoren und Möchtegern-Schriftstellern gelauscht, sodass sie sich mittlerweile zu einer Meisterin im Heraushören von negativen Untertönen entwickelt hatte.
Sie schaute um das Regal herum.
»Hallo, meine Damen!«
»Riley«, rief Lola Martin mit erhobenen Augenbrauen, »wer war deine erste Liebe?«
Die Frauen saßen in Clubsesseln und hatten die Füße auf verblichene, rosarot-grün gemusterte Polsterhocker gestellt. Auf den aus Treibholz gezimmerten Beistelltischchen standen Kaffeetassen. Alle winkten Riley zu und begrüßten sie lautstark.
»Tom Sawyer«, antwortete sie mit schiefem Lächeln und schob ein heruntergefallenes Buch ins Regal zurück. »Interessante Frage. Über welches Buch sprecht ihr denn gerade?«
»Über Beach Music von Pat Conroy«, antwortete Lola. »Der Held des Romans hört nie auf, seine erste Liebe zu lieben, und da haben wir uns einfach gefragt, wer wohl deine erste Liebe war. Aber Tom Sawyer zählt nicht.«
»Doch, doch, der zählt.« Riley trat in die Mitte des Kreises und nahm mehrere leere Kaffeetassen an sich. »Für eine zwölfjährige Leseratte, die allein irgendwo am Flussufer saß, war Tom Sawyer der ideale erste Schwarm.«
»Das klingt, als hätte Tom Sawyer wirklich gelebt«, bemerkte Lola.
»Hat er ja auch.« Riley schaute aus dem Fenster in den Vorgarten, wo eine uralte Lebenseiche mit ausladender Krone ihre Äste hoch in den Himmel reckte. In den Astgabeln nisteten Lichtflecken.
»Seht ihr«, erklärte Ashley Carpenter und ließ ihr sechs Monate altes Baby auf dem Schoß hopsen, »wahre Liebe und Happy Ends gibt's nur in Märchen oder Romanen, nicht im wirklichen Leben.«
Lola schüttelte den Kopf. »Ich behaupte ja gar nicht, dass es bei wahrer Liebe immer einen
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