Geliebter Lord
Als die Kutsche um eine Ecke bog, legte Hamish den Arm um Marys Schulter, um ihr Halt zu geben. »Die Hindus glauben, dass jeder irgendwann für seine Verbrechen bezahlt – wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.«
»Bist du ein Anhänger dieser Philosophie?«
»Es hat einiges für sich, an eine höhere Gerechtigkeit zu glauben.«
»Charles sollte für sein Schweigen bestraft werden, Hamish. Wenn er mir früher gesagt hätte, was er wusste, hätte Gordon nicht so qualvoll sterben müssen.«
»Eines habe ich auf Castle Gloom begriffen: dass ich mein Leben nicht mit Hass und Wut vergeuden will. Dafür hast du mir die Augen geöffnet, Mary.«
»Habe ich das?« Sie lächelte, als sie erkannte, dass nach Charles nun auch Hamish sie vor eine Wahl stellte, er allerdings ohne Eigennutz: verbittert oder glücklich zu sein. »Ich würde sagen, wir vergessen Charles, Hamish – und Sir John gleich mit.«
Er neigte sich zu ihr und küsste sie, entführte sie aus dieser kalten, dunklen Welt in eine von Wärme und Licht durchflutete. Mary schlang die Arme um ihn, genoss die Gewissheit, dass er leibhaftig bei ihr war, nicht nur eine Traumgestalt wie in den Nächten in ihrer Zelle.
Die Woche im Gefängnis, die Tage im Gericht und ihr Kummer darüber, Gordon nicht die verdiente Fürsorge geschenkt zu haben, forderten ihren Tribut. Derart geschwächt, war sie nicht in der Lage, Klugheit, Zurückhaltung oder Stolz walten zu lassen.
»Ich liebe dich, Hamish«, sagte sie, obwohl sie damit rechnete, ihn mit dieser Eröffnung zu erschrecken. Jeden Morgen war sie mit seinem Lächeln vor Augen aufgewacht und hatte sich nachts mit den Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte von ihrer Einsamkeit abgelenkt.
Mary hielt Hamish so fest umfangen, wie sie konnte, drückte ihre Wange an seine Brust und schloss die Augen. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor.
Als er von ihr abrücken wollte, ließ sie es nicht zu. Er sollte nicht sehen, dass sie weinte.
»Mary«, sagte er sanft. Nur das.
»Eines Tages wirst du mich lieben«, versicherte sie ihm mit erstickter Stimme.
»Denkst du denn, das tue ich nicht längst?« Mit sanftem Nachdruck befreite er sich aus ihrer Umklammerung. »Glaubst du, ich vertraue einer Frau, die mir nichts bedeutet, meine Geheimnisse an, befreie sie aus dem Gefängnis und mache ihr einen Heiratsantrag?«
»Du hast mir keinen Antrag gemacht«, korrigierte sie ihn. »Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns der Drohung eines Gottesmannes gebeugt.«
Lächelnd wischte er ihr mit dem Daumen die in der Dunkelheit glitzernden Tränen von den Wangen. »Ich beuge mich
nie«,
verkündete er.
Mary setzte sich gerade hin. Ein Gefühl freudiger Erregung prickelte durch ihren Körper.
»Außerdem
musstest
du mich heiraten«, sagte er.
»Tatsächlich?«
»Ja – um meine Reputation zu retten.«
Als er seine Lippen auf die ihren senkte, spürte sie ihn lächeln.
Die Kutsche durchquerte Inverness, so schnell es möglich war, ohne Verdacht zu erwecken. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sie das Gefängnis verlassen hatten, doch sie konnten nicht darauf bauen, dass Marys Flucht bisher nicht bemerkt worden war.
Als Mary einschlief, befreite Hamish sie von ihrem Hut und warf ihn auf die gegenüberliegende Sitzbank. Dann drückte er seine Ehefrau sanft nach unten, bis ihre Wange auf seinem Schenkel ruhte. Mary seufzte im Schlaf, und er hoffte, sie träumte etwas Schönes.
Während der Zeit auf Castle Gloom hatte sie sich nie als geduldig leidende Ehefrau dargestellt. Sie hatte Gordons gute Seiten erwähnt und den Rest ungesagt gelassen.
Mary hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert, und je besser er sie kennenlernte, umso faszinierter war er.
Sie fuhren weiter durch die mondhelle Nacht. Zweimal glaubte Hamish, Verfolger kommen zu hören, doch es war nur der Hall des Getrappels der Kutschpferde, den die umliegenden Hügel zurückwarfen.
Hamish lehnte sich an, schloss die Augen und ließ sich vom Rhythmus der beschlagenen Hufe einlullen.
Mit etwas Glück lag ein Schiff in Gilmuir, das er Alisdair abkaufen konnte. Die Verhandlung würde schwierig werden, denn sein Bruder würde ihm das Schiff schenken wollen, aber die Werft war Teil der finanziellen Lebensgrundlage seines Bruders, und Hamish würde nicht zulassen, dass er auf diesen Verdienst verzichtete. Außerdem war ein MacRae-Schiff seinen Preis wert. Schnittig und schnell wie ein Schwan würde es Mary und ihn von Schottland fortbringen.
Im
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