Geliebter Lord
dass sie schon glaubte, er würde nicht antworten. Als er es schließlich tat, war seiner Stimme deutlich anzumerken, welche Überwindung es ihn kostete, darüber zu sprechen. »Nach meiner Rettung machte ich mich sofort mit einigen Helfern auf, um ihn zu holen, aber wir kamen zu spät – er war schon tot.«
»War seine Wunde vereitert gewesen?«
»Ja.«
»Irgendwelche Verfärbungen?«
»Etwas wie eine aufwärtsführende rote Linie.«
»Geruch?«
»Ja. Fragst du das alles, um die Schwere seiner Verletzung einzuschätzen, Mary? Ich kann dir auch so sagen, dass er sie wahrscheinlich nicht überlebt hätte.«
»Trotzdem gibst du dir die Schuld an seinem Tod.«
Sie sah vor sich, wie Hamish sie, während er seine ihr bis dahin nur angedeutete Geschichte erzählte, unverwandt anschaute, als wäre er sich der atemlos lauschenden Menschenmenge gar nicht bewusst. Erst jetzt konnte sie seine Seelenqualen wirklich begreifen.
»Versteh doch – er war noch am Leben, als ich ihn da liegenließ!«
Seine Selbstvorwürfe griffen ihr ans Herz. Andererseits würde sie ihn, wenn er dafür keinen Anlass sähe, nicht lieben.
Auch sie hatte ein Geständnis abzulegen.
»Ist dir jemals aufgefallen, dass ein Schmerz, wenn du dich auf etwas anderes konzentrierst, innerhalb weniger Augenblicke vergeht?«
»Du hast sicherlich einen Grund für diese Frage«, sagte er amüsiert.
»Ich habe dir nicht von Gordon erzählt. Nicht wirklich. Ich zog es vor, nicht an ihn zu denken.«
»Damit du den Schmerz nicht fühltest?«
Mary zog den Vorhang beiseite und schaute in die Dunkelheit hinaus, als könnte sie Gordon dort sehen. Doch sie sah nur die Stadt, in der sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte – und die ihr plötzlich seltsam fremd erschien. »Nicht so sehr den Schmerz, als vielmehr die Schuldgefühle. Ich war meinem Mann aus vielerlei Gründen dankbar. Er war freundlich zu meiner Mutter und half, die Schulden meines Vaters zu tilgen. Lange Jahre fiel es mir nicht schwer, ihn zu lieben.«
Hamish lauschte ihr schweigend.
»Doch dann begann sein Geist, sich zu verwirren. Gordon beschuldigte mich unmittelbar nach einer Mahlzeit, dass er nichts zu essen bekommen hätte. Ein anderes Mal behauptete er, Charles habe ihm sein Gold gestohlen, und die Nachbarn spotteten über ihn. Er wurde vergesslich. Eines Tages saß er, als ich in die Werkstatt kam, mit einem Werkzeug in der Hand da und starrte es ratlos an. Als ich ihn fragte, ob etwas nicht stimme, erkannte er mich nicht. Er wollte wissen, ob er mit den Werkzeugen arbeite und was er tue. Ich hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Doch ein paar Minuten später arbeitete er wieder.«
»Er war alt, und alte Menschen werden manchmal wunderlich.«
Mary schüttelte den Kopf. »Es steckte mehr dahinter. Ich hätte mich eingehender informieren müssen. Stattdessen verbrachte ich immer weniger Zeit mit Gordon, suchte ständig Ausreden, um das Haus zu verlassen, und wenn ich da war, hielt ich mich meistens in meinem Arbeitsraum auf. Wenn ich die Ehefrau gewesen wäre, die er verdiente, hätte ich ihm vielleicht helfen können.
Ich bin nicht unschuldig an seinem Tod, Hamish«, bekannte sie die schreckliche Wahrheit. »Ich wünschte, ich wäre es, aber es ist nicht so. Hätte ich gewusst, dass er zu einem Arzt ging, hätte ich ihm nicht zusätzlich Quecksilber verabreicht. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich es wissen können.«
»Nur Neugeborene und Heilige sind wirklich unschuldig, Mary«, erwiderte Hamish sanft. »Normalsterbliche sind unvollkommen und machen Fehler. Auch Gordon war nicht unschuldig.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Er hat dir nicht offenbart, dass er auch eine von Dr. Grampian verordnete Arznei einnahm. Verrät das nicht einen Mangel an Vertrauen?«
Mary dachte darüber nach. »Werden wir uns ewig schuldig fühlen, Hamish?«, fragte sie dann.
»Ich glaube schon«, antwortete er nach kurzem Schweigen. »Aber Schuldgefühle haben auch ihr Gutes, Mary – sie veranlassen uns zur Selbsterforschung und halten uns davon ab, denselben Fehler noch einmal zu machen.«
Auf diese Weise hatte sie es noch nie betrachtet. »Was wird mit Charles geschehen? Er wusste Bescheid und hat geschwiegen.«
»Ich denke nicht, dass er bestraft wird. Aber selbst wenn, werden wir es nicht miterleben. Unglücklicherweise kommt es vor, dass schlechte Menschen ihrer gerechten Strafe entgehen und gute Menschen für Verbrechen bezahlen müssen, die sie nicht begangen haben.«
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