George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
das Buch meistens als Selbstbeweihräucherung eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Insgeheim hatte ich gehofft, dass die Reflexivität als bedeutende Entdeckung begrüßt werden würde, und ich bewertete sie so hoch, dass es mir kaum gelang, mich davon zu verabschieden – ich legte sie weiterhin auf verschiedene Arten dar. Die Tatsache, dass mein konzeptueller Rahmen in der Öffentlichkeit kaum auf Resonanz stieß, brachte mich zu dem Schluss, dass ich mich irrte: Meine Interpretation der komplizierten Beziehung zwischen Denken und Wirklichkeit war wohl nur eine subjektive Einsicht, kein objektiver Beitrag zur Philosophie. Ich begann, mich als gescheiterten Philosophen zu betrachten. Ich hielt in Wien sogar einen Vortrag mit dem Titel „Ein gescheiterter Philosoph probiert es noch einmal”. Ich sprach damals auf einem erhöhten Podest in der Universität, was mich dazu anregte, die Doktrin der Fehlbarkeit zu formulieren.
Durch den Crash 2008 hat sich das alles geändert. Die Volkswirte begannen, zu erkennen, dass an dem vorherrschenden Paradigma etwas grundlegend falsch war, und die Reflexivität begann, ernst genommen zu werden. Das hat dazu geführt, dass ich zum Sponsor des Institute of New Economic Thinking (INET) wurde, das sechs Wirtschaftsnobelpreisträger zu seinem Aufsichtsrat zählt.
Ich habe meinen konzeptuellen Rahmen weitgehend in der Zurückgezogenheit meines eigenen Verstands entwickelt. Da ich allein arbeitete, war das ein langsamer und mühsamer Prozess. Doch jetzt bekam ich kritische Rückmeldungen zu meinen Ideen und das war eine große Hilfe. Ich glaube, in den letzten drei Jahren habe ich mehr Fortschritte gemacht als in den 30 Jahren davor. Meine Perspektive hat sich geändert. Ich betrachte mich nicht mehr als gescheiterten Philosophen. (Natürlich kann ich mich jetzt irren.) Ich glaube, dass mein konzeptueller Rahmen mehr als nur subjektive Bedeutung besitzt – er kann der Menschheit helfen, die Bedeutung der Wirklichkeit besser zu erfassen. Mein Beitrag beschränkt sich nicht auf das Konzept der Reflexivität. Genauso wichtig ist es nämlich, die Rolle von Fehlauffassungen für die Gestaltung des geschichtlichen Verlaufs anzuerkennen. Ich glaube, dass dieser Punkt in der vorliegenden Sammlung von Essays laut und deutlich zu vernehmen ist, vor allem in denjenigen, die sich mit der Eurokrise befassen.
Ich habe in den letzten drei Jahren so viel gelernt, dass ich ein neues Buch werde schreiben müssen. Es wird die gleiche Form haben wie alle anderen: eine Neuformulierung des konzeptuellen Rahmens und seine Anwendung auf den gegenwärtigen geschichtlichen Moment. Aber jetzt ist dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Noch wütet die Krise und noch ist ihr Ausgang ungewiss.
Die Reihe der hier versammelten Essays wird einen Teil dieses Buches bilden. Normalerweise enthalten meine Bücher ein Echtzeit-Experiment und das wird der Beitrag sein, den diese Aufsätze leisten. Sie wurden in der Hitze des Gefechts geschrieben und sie haben versucht, angemessene Vorgehensweisen zu empfehlen. Sie wurden zwar ernst genommen, aber für den Leser dürfte offensichtlich sein, dass sie weder von der Obama-Administration noch von den europäischen Behörden befolgt wurden. Ich glaube, es würde uns allen besser gehen, wenn sie das getan hätten.
Parallel zum Verfassen der Artikel habe ich auch versucht, hinter den Kulissen die Politik zu beeinflussen. Meine Kontakte zu den staatlichen Stellen folgten den üblichen Regeln: Sie hörten mir zwar zu, aber sie antworteten nicht. Das war eine frustrierende Erfahrung.
Nach dem europäischen Gipfel vom 9. Dezember, auf dem sich die Verantwortlichen eindeutig nicht an die Lösung hielten, die ich in meinen Artikeln verfochten habe, beschloss ich, keinen weiteren Artikel zu veröffentlichen, sondern mich mit einer persönlichen Denkschrift an die Verantwortlichen zu wenden. Ich nannte sie den „Padoa-Schioppa-Plan für Europa“ – im Gedenken an ein ehemaliges Mitglied der EZB, mit dem ich vor seinem plötzlichen Tod eine enge Kooperation über die Eurokrise entwickelt hatte. Ich gebe sie hier wieder.
„Der Padoa-Schioppa-Plan für Europa“
Der Europa-Gipfel vom 9. Dezember hat den Keim für künftige Probleme gelegt, ohne die derzeitige Finanzkrise zu lösen. Diese künftigen Probleme werden sich um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten und um eine falsche Doktrin drehen, die den vorgeschlagenen Finanzpakt bestimmt. Diese Doktrin erzwingt in einer Zeit
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