George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
geprägt. Diese beiden Extreme fungieren als „Seltsame Attraktoren“ – ein Begriff, der im Zusammenhang mit komplexen Systemen häufig benutzt wird. Das liegt daran, dass die Menschen komplexe Situationen vereinfachen müssen und dass die Dichotomie der beiden Extreme als nützliches Vereinfachungsprinzip dient. Die herrschende Ordnung wird entweder als unveränderlich oder als veränderlich wahrgenommen. Unveränderliche Situationen werden als sicher und vorhersehbar wahrgenommen, veränderliche als unsicher und unberechenbar. Und Wahrnehmungen verstärken reflexiv die Realität – der Glaube an die Stabilität führt zu Vorkehrungen, die diese Stabilität verstärken, und umgekehrt.
Da Blasen die Finanzmärkte grundsätzlich instabil machen, ist die Geschichte der Finanzmärkte mit Finanzkrisen durchsetzt. Jede Krise rief eine regulatorische Reaktion hervor. So haben sich die Zentralbanken und die Finanzregulierungen gemeinsam mit den Märkten entwickelt. Die Märkte werden nicht nur von einer unsichtbaren Hand gelenkt, sondern sie sind auch sehr der sichtbaren Hand der Politik unterworfen.
Blasen treten nur zeitweilig auf, aber das Wechselspiel zwischen den Märkten und der Politik ist kontinuierlich. Sowohl die Marktteilnehmer als auch die Finanzbehörden handeln auf der Grundlage eines unvollkommenen Verständnisses. Dadurch wird dieses Wechselspiel reflexiv. Deshalb muss die Reflexivität zu allen Zeiten in unsere Interpretation der Finanzmärkte eingehen, nicht nur unter Bedingungen, die weit von einem Gleichgewicht entfernt sind.
Das hat erhebliche Konsequenzen. Die Reflexivität bringt ein Element nicht quantifizierbarer – Knight’scher – Ungewissheit ins Spiel, die dazu führt, dass Poppers Schema wissenschaftlicher Methoden nicht gilt. Zeitlose allgemeine Aussagen können weder für die Vorhersage noch für die Erklärung von Finanzmärkten verwendet werden und es herrscht keine Symmetrie zwischen Vorhersage und Erklärung – die Erklärung der Vergangenheit ist einfacher als die Vorhersage der Zukunft. Anders gesagt lassen sich die Finanzmärkte am besten als historischer, an Zeit und Kontext gebundener Prozess erklären.
In „Die Alchemie der Finanzen“ habe ich einige Situationen fern eines Gleichgewichts dargestellt, an denen ich persönlich beteiligt war. Und ich habe sie dort nicht nur erklärt, sondern in manchen Fällen auch berichtet, wie ich davon profitiert habe. Außerdem habe ich dort auch eine Art Echtzeit-Experiment durchgeführt, indem ich die Entscheidungen, die ich als Hedgefonds-Manager traf, zu dem Zeitpunkt aufzeichnete, in dem ich sie traf. Zwar gelang es mir nicht, die Theorie der Markteffizienz und die Theorie der rationalen Erwartungen zu widerlegen, aber ich konnte zeigen, dass Poppers Kritik am Marxismus – nämlich dass er gegen die Falsifizierung immun sei – auch für die Hauptströmung der Volkswirtschaftslehre gilt. Außerdem bin ich davon überzeugt, demonstriert zu haben, dass man mit meiner Methode das Verhalten von Finanzmärkten besser vorhersagen und erklären kann als mit dem herrschenden Paradigma.
Die meisten meiner späteren Bücher waren ähnlich aufgebaut: eine Darstellung meines konzeptuellen Rahmens, seine Anwendung auf eine konkrete Situation – gewöhnlich die geschichtliche Gegenwart – und ein Echtzeit-Experiment oder ein anderer Versuch, Vorhersagen zu treffen oder Vorschriften vorzuschlagen. Die behandelten Themen beschränkten sich nicht auf die Finanzmärkte. Ich benutzte zwar die Finanzmärkte als Testlabor, aber ich war überzeugt, dass mein konzeptueller Rahmen viel breiter anwendbar sei. Beispielsweise habe ich in „Opening the Soviet System“ den Aufstieg und Fall des sowjetischen Systems als Prozess des Aufstiegs und Niedergangs interpretiert. In „Die Vorherrschaft der USA – eine Seifenblase“ habe ich anhand der gleichen Methode die Fehlauffassungen analysiert, die der katastrophalen Politik der Bush-Regierung zugrunde lagen. Die hier vorliegende Artikelsammlung ist von dem gleichen Geist durchdrungen: Ich betrachte finanzielle und politische Entwicklungen als untrennbar miteinander verflochten und ich betone die Rolle von Fehlauffassungen.
Als „Die Alchemie der Finanzen“ erschien, stieß es auf ein durchwachsenes Echo. In der Hedgefonds-Community wurde es weithin gelesen und es wurde in einigen Business Schools behandelt, aber von Volkswirten wurde es entweder abgelehnt oder ignoriert. Die Medien betrachteten
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