Geräusch einer Schnecke beim Essen
suchen konnte. Es war schwer, mir ein Leben ohne Schnecke vorzustellen. Ihre stille Anwesenheit würde mir fehlen, aber ich wusste, dass der Frühlingsregen für ein reichhaltiges Angebot an frischer Nahrung sorgen und damit die bestmöglichen Überlebenschancen schaffen würde.
Ich schrieb meinem Arzt einen weiteren Brief:
Heute regnet es wieder. Ich schaue schon die ganze Zeit von meiner Bettcouch aus hinaus und wünschte, ich könnte tun, was ich täte, wenn ich nicht krank wäre, nämlich Stiefel und Regenmantel anziehen, mir eine Schaufel schnappen und jede Menge Pflanzen umsetzen. Einmal habe ich in einem Frühlingsregen all meine blühenden Tulpen ausgegraben, und dann habe ich sie an ihren sechzig Zentimeter langen Hälsen gepackt, so dass Zwiebel und Wurzelballen nach unten hingen und die Blüten mir wie Zyklopenaugen ins Gesicht starrten, und bin mit ihnen durch den Garten spaziert. Für jede einzelne habe ich ihrer Farbe entsprechend einen neuen Standort gesucht. Wenn man Pflanzen im Regen umsetzt, bemerken sie es kaum, und die Tulpen haben es bestens verkraftet. Heute ist ein idealer Schneckenabschiedstag.
Im Terrarium geschlüpft und aufgewachsen, hatte die junge Schnecke feinste Riesenchampignons und frisches Wasser in einer Miesmuschelschale serviert bekommen. Nie war sie den im Wald lauernden Gefahren ausgesetzt gewesen. Sie würde aus ihren eigenen Ressourcen schöpfen müssen, und ich hoffte, dass sie ihr neues Zuhause interessant und schmackhaft finden würde, vertraut und überraschend zugleich.
Ich schaffte es inzwischen ab und zu, das kurze Stück bis zum Waldrand zu gehen. Eines Abends, als es nach einem leichten Regen nur noch ein wenig nieselte, trug ich die junge Schnecke zu ein paar großen Laubbäumen, die vor einer Steinmauer standen. Ich setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab und sah zu, wie sie ein Stückchen aus ihrem Gehäuse hervorkam. Interessiert reckte sie die zuckenden Fühler, richtete sie hierhin und dorthin, um die Vielzahl frischer Gerüche aufzunehmen. Sie untersuchte ein paar tote Blätter, dunkelgrünes Moos, Flechten und die dicke Wurzel eines Baums. Und dann sah ich ihr nach, während sie langsam durch die Dämmerung kroch und im Dunkeln verschwand.
Zum ersten Mal befand sich die Schnecke in einer Welt ohne Grenzen. Ich fragte mich, was sie wohl von dieser überraschenden Freiheit hielt. Welche nächtlichen Abenteuer würde sie erleben, während ich schlief, und wo würde sie sich am nächsten Morgen für ihre Tagesruhe verstecken? Wie würde sie sich in der weiten, freien Natur ein eigenes Gebiet suchen?
22 . Nächtlicher Sternenhimmel
Der Mensch ist herausgehoben, nicht weil wir
so hoch über anderen Lebewesen stünden,
sondern weil deren gründliche Kenntnis einen
höheren Begriff von Leben schafft.
Edward E. Wilson, Biophilia , 1984
Mein Garten erwachte, und ich lag so oft wie möglich draußen auf einer Chaiselongue, Brandy an meiner Seite. Wir sahen zu, wie sich das Sonnenlicht seinen Weg durch das Geäst des Holzapfelbaums suchte und Blaustern und Krokusse tüpfelte, hielten Ausschau nach den spitzen Nasen aus dem Boden emporlugender Tulpenblätter. Jede Woche blühten weitere meiner mehrjährigen Pflanzen auf, und in der Hecke, die den Garten einfasste, nisteten sich zahlreiche Vögel ein. Die Rubinkolibris kehrten von ihrem Tausende Kilometer entfernten Winterquartier zurück und ließen sich wie jeden Sommer in den alten Apfelbäumen nieder. Sie flitzten zwischen den Blumenbeeten vor dem Haus und der kleinen Mohnwiese dahinter hin und her und konkurrierten in einem uralten speziesübergreifenden Tanz mit den bunten Schmetterlingen um Nektar.
Ich konnte die Augen schließen und spüren, wie mich die Sonne am ganzen Körper wärmte und der Wind über mich hinwegstrich. Das einschläfernde Summen der Bienen und jene seltsamen, gedämpften Insektengeräusche, die von überallher erklingen, erfüllten meine Ohren und vermischten sich in meiner Wahrnehmung mit dem guten, intensiven Geruch erdigen Lebens.
Auf den Frühling folgte der Sommer, auf den Sommer der Herbst, der erste Schnee fiel, und ich dachte immer noch häufig an die Schnecke und ihre Nachkommen. Meine erste Schnecke war eine wunderbare Gefährtin gewesen, sie hatte keine Fragen gestellt, die ich nicht hätte beantworten, und keine Erwartungen an mich gerichtet, die ich nicht hätte erfüllen können. Ich hatte miterlebt, wie sie sich unterschiedlichen Lebensbedingungen
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