Gérards Heirat
Mädchen zu suchen. Er schlenderte ohne Ziel durch die nur halberleuchtete Flur, als er an der Treppe Fräulein Grandfief auf sich zukommen sah. Sie stieg fröhlich, ihren Strohhut in der Hand, die Treppe herauf und summte die Melodie eines Walzers vor sich hin. Noch nie war sie Marius so hübsch erschienen als jetzt, wie sie ohne Hut mit rosigen Wangen und lächelndem Mund, etwas hochgetragenem Näschen und blitzenden Augen auf ihn zukam. Wie gesagt, Marius hatte einen Spitz und auch Georgine selbst war etwas angeheitert; der Spaziergang, die leichte Erregung durch den in den Trauben genossenen Wein, das fröhliche Abendessen, all dies war ihr ein wenig zu Kopfe gestiegen. Sie sah so frisch und einnehmend aus, das Treppenhaus war so leer, daß es Marius war, als ob ihn ein unsichtbarer Kobold vorwärts treibe; ohne zu sprechen, faßte er beide Hände Georginens, die ihn anlächelte, und drückte einen Kuß auf die blühenden Lippen. Zuerst war sie ganz bestürzt; sei es nun aus Verwirrung, sei es Schrecken oder vielleicht auch, daß sie in diesem mutwilligen Kuß eine noch nie gekostete Süßigkeit fand, genug sie machte auch nicht die leiseste Bewegung, und Marius glaubte zu fühlen – die Dichter pflegen stets eitel zu sein –, daß Georginens Lippen vor den seinen nicht gerade flohen. Plötzlich stieß sie einen leichten Schrei aus, eine Thüre hatte sich geöffnet und Regina Lecomte, die zu den Winzerinnen gehörte, war auf der Schwelle erschienen. Fräulein Grandfief machte sich mit entrüsteter Miene frei undentfloh mit einem dunkelroten Gesicht, während Marius, von seinem Abenteuer entzückt und in der Erinnerung an den Kuß schwelgend, mit dem köstlichen Selbstgefühl, das ein leichter Rausch verleiht, die Treppe hinunterging und zu sich selbst sagte: »Angeführt, Frau Grandfief!« Georgine kehrte verwirrt und nachdenklich nach Salvanches zurück. Sie hatte eine sonderbare, beunruhigende Empfindung, in die sich sowohl Schrecken und Angst, als auch Vergnügen und Sehnsucht mischten. Als Marius' Lippen die ihren berührt, hatte es sie bald glühend heiß, bald eiskalt überlaufen und es war ihr so beklommen und so voll ums Herz gewesen, und – sie mußte es sich gestehen, obgleich sie darüber errötete – sie hätte gewünscht, daß dieser Kuß kein Ende nehme. Noch fühlte sie den Druck dieser kecken Lippen auf ihrem Munde. Doch bald wurde ihre unschuldige, fromme Seele von einer furchtbaren Angst erfaßt; es war eine Sünde, die sie soeben begangen hatte, und zwar mußte es eine schreckliche Sünde sein, da sie ein so aufregendes und doch so süßes Fieber zurückgelassen hatte! Helene Laheyrard, die so grausam bestraft und verurteilt worden war, hatte wahrscheinlich nichts Schlimmeres gethan! ... Und wenn diese abscheuliche Sünde als Strafe des Himmels für sie nun dieselben unheilvollen Folgen hätte wie für die Tochter des Schulrates! ... Diese wunderliche Angst durchschauerte sie von Kopf zu Fuß; sie konnte an nichts anderes mehr denken. Als sie in ihrem kleinen Zimmer allein war, verdoppelte sich ihre Furcht. Sie blickte einen Augenblick in den Spiegel, wandte aber rasch den Kopf ab, denn der Glanz ihrer Augen flößte ihr Schrecken ein. Soviel war sicher, es war etwas Neues und Schreckliches in ihr vorgegangen, sie hatte Fieber, sie fühlte ein unerklärliches Zittern. – »Ach mein Gott, mein Gott, was soll aus mir werden!« dachte sie, als sie ihr dunkles Köpfchen in die Kissen drückte, »und diese Regina mit ihrer bösen Zunge, die alles gesehen hat und alles erzählen wird! ... Morgen bin ich das Stadtgespräch.« – Sie schluchzte undjammerte ganz leise; sie schlief erst sehr spät ein und träumte die ganze Nacht von Helene Laheyrard.
Sobald sie erwacht war, eilte sie zu ihrem Spiegel. Als sie ihre umränderten Augen, ihre abgespannten Züge und ihre blassen Lippen sah, war sie nicht mehr im Zweifel. Es war gewiß, auch sie war verloren! Wie konnte sie es wagen, sich den strengen, forschenden Blicken ihrer Mutter zu zeigen? Und doch mußte sie sich zeigen, und zur Frühstückszeit ging sie zitternd hinab. Glücklicherweise war Frau Grandfief von den Vorbereitungen zu einer Wäsche sehr in Anspruch genommen und bemerkte die Veränderung in dem Aussehen ihrer Tochter nicht. Den ganzen Vormittag war Georgine schweigsam und ängstlich. So oft sie an einem Spiegel vorüberging, sah sie mit Schrecken ihr blasses Gesicht und ihre Furcht verdoppelte sich. Ihre Aufregung und ihre
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