Gerechtigkeit fuer Igel
schlechter gemeistert werden kann. Der Ehrgeiz, kein schlechtes, sondern ein gutes Leben zu führen – also eines, das authentisch und wertvoll ist und nicht gemein oder entwürdigend –, muß zu den wichtigsten privaten Interessen gerechnet werden. Besonders hoch sollten wir unsere Würde schätzen. Die undisziplinierte und übermäßige Verwendung dieses Begriffs in der politischen Rhetorik hat ihn entwertet. Jeder Politiker verpflichtet sich mit einem Lippenbekenntnis auf ihn, und fast alle Menschenrechtskataloge räumen ihm einen wichtigen Platz ein. Wir benötigen diese Idee jedoch ebenso wie die verwandte Idee der Selbstachtung, um unsere Lage und unsere Bestrebungen richtig zu verstehen. Ein jeder liebt das Leben mit aller Leidenschaft, die ihm zur Verfügung steht, und fürchtet den Tod. Unter den Tieren sind wir die einzigen, die sich dieser scheinbar absurden Situation bewußt sind. Da wir unsere Leben gewissermaßen in den Vorgebirgen des Todes führen, können sie nur einen adverbiellen Wert haben. Der Wert des Lebens – der Sinn des Lebens – besteht darin, ein gelungenes Leben zu führen, so wie es uns auch wertvoll scheint, gut zu lieben, zu malen, zu schreiben, zu singen oder zu tauchen. Das Leben hat keinen dauerhaften Wert und keinen Sinn, der über diesen Imperativ hinausgeht – und mehr brauchen wir auch nicht. Tatsächlich ist das ganz wunderbar.
Würde und Selbstachtung – wie immer wir sie genau verstehen – sind unverzichtbare Bedingungen einer gelungenen Lebensführung. Daß dem so ist, zeigt sich daran, was die meisten Menschen in ihrem Leben anstreben: Sie wollen aufrecht und stolz allen ins Gesicht sehen können, während sie sich um die Erfüllung ihrer anderen Wünsche bemühen. Weitere Belege finden wir in der Phänomenologie von Scham und Beleidigung, die andernfalls kaum zu verstehen wäre. Die genauen Dimensionen der Würde müssen noch ausgelotet werden. Zu Beginn dieser Zusammenfassung habe ich zwei grundlegende politische Prinzipien angesprochen: zum einen die Forderung, daß
35 die Regierung den von ihr Regierten gleiche Berücksichtigung zukommen läßt, und zum anderen, daß sie, wie wir es nun formulieren können, die ethischen Verantwortlichkeiten der Subjekte achtet. Im neunten Kapitel werde ich die ethischen Entsprechungen dieser beiden politischen Prinzipien entwickeln. Die Menschen müssen ihr eigenes Leben ernst nehmen: Sie müssen einsehen, daß es objektiv bedeutsam ist, wie sie leben. Mit demselben Ernst müssen sie sich auch zu ihrer persönlichen ethischen Verantwortung verhalten, indem sie auf dem Recht bestehen, ethische Entscheidungen letztlich selbst zu treffen – und dieses Recht auch ausüben. Beide Prinzipien bedürfen einer ausführlichen Erörterung, und im neunten Kapitel werde ich diese Aufgabe angehen, aber im Rahmen ihrer Anwendung in den späteren Kapiteln und der bereits erwähnten Diskussion von Determinismus und Willensfreiheit werden noch sehr viel mehr Details zur Sprache kommen.
Moral
In der Philosophie wird oft gefragt, warum man moralisch sein sollte. Manche sehen darin eine strategische Frage: Wie können wir vollkommen amoralische Menschen dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern? Es ist aber ergiebiger, die Frage auf ganz andere Weise zu verstehen: Wie läßt sich die Anziehungskraft der Moral verstehen, die wir alle fühlen? Diese Frage ist deshalb ergiebiger, weil eine Antwort nicht nur dazu beiträgt, daß wir uns selbst besser verstehen, sondern uns zudem helfen kann, den Inhalt der Moral genauer zu bestimmen. Wir bekommen ein klareres Bild davon, was wir tun müssen, um moralisch zu sein.
Wenn wir die Moral auf die eben vorgeschlagene Weise an die Ethik der Würde binden können, gibt uns das eine plausible Antwort auf jene philosophische Frage, zumindest wie ich sie interpretiere. Man könnte einfach sagen, daß wir uns eben
36 so zur Moral hingezogen fühlen wie zu anderen Aspekten der Selbstachtung. Zum einen greife ich zur Verteidigung dieser Antwort auf einige der in dieser Zusammenfassung bereits erwähnten Ideen zurück, vor allem auf das Wesen der Interpretation und der interpretativen Wahrheit und auf die These, daß ethische und auch moralische Wahrheit von Wissenschaft und Metaphysik unabhängig ist. Besonders wichtig ist an dieser Stelle aber der Bezug auf Immanuel Kants Auffassung, daß wir die Menschheit in unserer eigenen Person nur dann adäquat achten können, wenn wir die Menschheit in der Person
Weitere Kostenlose Bücher