Gerechtigkeit fuer Igel
nicht den Wohlstand erreicht hat, den andere Generationen und wohlhabendere Gegenden kennen oder früher kannten. Wenn aber meine Ressourcen oder Möglichkeiten deshalb weniger umfassend sind, weil ich oder meine Gemeinschaft ungerecht behandelt worden sind, dann handelt es sich dabei nicht um einen Parameter, sondern um eine Einschränkung. Ob relative Armut ein Leben prägt oder vereitelt, hängt also davon ab, ob diese Armut ungerecht ist oder nicht. Selbst wenn die Menschen, die von der modernen Gesellschaft betrogen worden sind, über substantiell mehr Ressourcen verfügen als ihre Vorfahren in einer weit entfernten und gerechten Vergangenheit, kann es sein, daß diese Vorfahren bessere Aussichten auf ein gutes Leben hatten.
711 Platon und andere Moralphilosophen haben die Auffassung vertreten, daß eine ungerechte Verteilung des Wohlstands nicht nur für diejenigen ethisch von Nachteil ist, die zu wenig haben, sondern auch für diejenigen, die zu viel besitzen. Jemand, der auf ungerechte Weise reich ist, muß einen größeren Teil seines Lebens der Politik widmen, wenn er seine Selbstachtung bewahren will, als er es andernfalls wollen oder für befriedigend halten würde. Er schuldet den anderen Mitgliedern seiner politischen Gemeinschaft Pflichten der politischen Assoziation, zu denen es gehört, das ihm Mögliche zu tun, um für Gerechtigkeit für alle zu sorgen. In einem Zeitalter der partizipativen Politik muß dies mehr umfassen, als nur im Sinne der Gerechtigkeit zu wählen. Solange die Politik mit privaten Mitteln finanziert wird, muß er Politikern Ressourcen zur Verfügung stellen, die er lieber für sein eigenes Leben einsetzen würde, und er muß darüber hinaus tun, was immer signifikant helfen würde. Seine Zeit gehört nicht länger ihm selbst.
Gravierende Ungerechtigkeiten – etwa eine zwischen Wohlstand und hoffnungsloser Armut zerrissene Nation – haben für die relativ Wohlhabenden noch weitergehende und dramatischere Folgen. Den meisten von ihnen wird es dadurch schwerer gemacht, ein Leben zu leben, das so gut ist, wie es ihnen unter weniger ungerechten Bedingungen möglich wäre. Manche von ihnen, die über bestimmte bemerkenswerte Talente verfügen, können ihren größeren Wohlstand effektiv einsetzen, um ein Leben voller wirklicher Errungenschaften zu verfolgen. Sie sind allerdings mit der ethischen Frage konfrontiert, ob sie das im Einklang mit der Würde tun können. Im Leben der anderen – der untalentierten Reichen – sind die Auswirkungen der Ungerechtigkeit allgegenwärtig, da es gegen den Wert eines Lebens spricht, daß es auf anderer Menschen Kosten gelebt wird, und nichts, das sie mit ihrem zusätzlichen Wohlstand zu erreichen in der Lage sind, kann dieses Wertdefizit ausgleichen.
3 Die Reichen leiden ebenso wie die Armen, auch wenn die Armen sich ihres Unglücks normalerweise eher bewußt sind.
712 In bestimmten Kulturen ist die problematische und anscheinend sehr überzeugende Lüge weit verbreitet, daß die wichtigste Metrik für die Bewertung eines guten Lebens Wohlstand sowie der Luxus und die Macht sind, die damit einhergehen. Die Reichen glauben, durch noch mehr Reichtum ihr Leben verbessern zu können. Diesen Reichtum setzen sie in den Vereinigten Staaten und zahlreichen anderen Ländern politisch ein, um die Bevölkerung zu überzeugen, Politiker zu wählen oder hinzunehmen, die ihnen bei der Erreichung dieses Ziels behilflich sind. Sie bezeichnen die hier vorgestellte Idee der Gleichheit als Sozialismus und als Bedrohung der Freiheit. Nicht jeder fällt auf diese Lüge herein, und zahlreiche Menschen sind auch ohne großes Vermögen mit ihrem Leben zufrieden. Aber viele andere lassen sich überzeugen und stimmen für niedrige Steuern, damit der Jackpot für den Fall, daß sie ihn gewinnen, gut gefüllt bleibt, obwohl es sich um eine Lotterie handelt, in der sie eigentlich nur verlieren können. Kaum etwas macht deutlicher, was für eine Tragödie ein ungeprüftes Leben ist: In diesem makabren Tanz von Gier und Wahn gibt es keine Gewinner. Von keiner vertretbaren oder auch nur verständlichen Theorie der Werte wird behauptet, daß es an sich wertvoll oder wichtig ist, Geld zu verdienen oder auszugeben, und fast alles, was wir kaufen, entbehrt jeglichen Werts. Der lächerliche Traum eines fürstlichen Lebens wird durch ethische Schlafwandler am Leben erhalten, die wiederum die Ungerechtigkeit weiter stützen, weil ihre Selbstverachtung eine Politik der
Weitere Kostenlose Bücher