Gerechtigkeit fuer Igel
davon ausgegangen, daß diese allgemeine These, die ich hier als das Hume'sche Prinzip bezeichnen werde, einen tie
41 fen Skeptizismus nahelegt: Die einzigen Arten des Wissens, die uns zur Verfügung stehen, können uns nichts darüber sagen, ob irgendeine unserer ethischen oder moralischen Überzeugungen wahr ist. Wie ich aber im ersten Teil dieses Buches zeigen will, ist das Gegenteil der Fall. Das Hume'sche Prinzip schwächt den philosophischen Skeptizismus, weil die Behauptung, es sei nicht wahr, daß Genozid falsch sei, selbst eine moralische Aussage ist, was im Lichte dieses Prinzips bedeutet, daß sie weder durch logische Entdeckungen noch auf der Basis von Tatsachen über die grundlegende Struktur des Universums begründet werden kann. Richtig verstanden spricht das Hume'sche Prinzip also nicht für einen Skeptizismus über moralische Wahrheit, sondern verteidigt vielmehr die Unabhängigkeit der Moral als eigenständigem Wissensbereich mit eigenen Forschungs- und Rechtfertigungsstandards. Mit anderen Worten wird hier die Zurückweisung des epistemologischen Codes der Aufklärung für den Bereich der Moral gefordert.
Auch die antike und mittelalterliche Konzeption des Eigeninteresses als ethisches Ideal fiel jener neuen scheinbaren Raffinesse zum Opfer. Entzaubert und schließlich von der Psychologie auseinandergenommen wurde es zunehmend düsterer interpretiert, von Hobbes' Materialismus über Benthams Lust und Leid bis zu Freuds Unvernunft und dem homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften, einem Wesen, dessen Interessen sich in seinen eigenen Präferenzkurven erschöpfen. Aus dieser Perspektive kann das Eigeninteresse allein in der Befriedigung einer Reihe kontingenter Wünsche liegen, die Menschen zufällig haben. Dieses neue, vermeintlich realistischere Bild des gelungenen Lebens brachte zwei westliche philosophische Traditionen hervor, von denen die erste die anglo-amerikanische Moralphilosophie des 19. Jahrhunderts dominierte. Dieser Ansatz übernahm jene moderne, düstere Konzeption des Eigeninteresses und vertrat dementsprechend die Auffassung, daß es in direkter Konkurrenz zur Moral stehe. Moralität bestehe in der Unterordnung des Eigeninteresses und dem Ein
42 nehmen einer besonderen objektiven Perspektive, von der aus die Interessen des jeweiligen Akteurs in keiner Weise wichtiger sind als jene aller anderen. Dies ist die Moral des Selbstverzichts, aus der die Moralphilosophie des unpersönlichen Konsequentialismus entstand, dessen berühmteste Vertreter Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick sind.
Die Denker der zweiten Tradition, die sich vor allem auf dem europäischen Kontinent durchsetzte, wandten sich gegen jene eher trostlose Interpretation des Eigeninteresses, die ihnen allzu kleingeistig erschien. Statt dessen betonten sie die grundlegende Freiheit des Menschen, die uns erlaubt, unseren eingeübten Gewohnheiten und der Biologie trotzend ein edleres Ideal des menschlichen Lebens anzustreben. Wir begreifen Jean-Paul Sartre zufolge, was diese Freiheit ist, wenn wir den Unterschied verstehen zwischen Objekten der natürlichen Welt, zu denen in gewisser Hinsicht auch wir gehören, und uns als Wesen, die sich ihrer selbst bewußt sind. Unsere Existenz geht unserer Essenz voraus, da wir für letztere verantwortlich sind: Wir sind verantwortlich dafür, unsere Natur zu machen und dann authentisch dem Anspruch gemäß zu leben, den wir selbst geschaffen haben. Der mittlerweile einflußreichste Vertreter dieser Tradition, Friedrich Nietzsche, stimmte zwar zu, daß die in westlichen Gesellschaften übliche Moral eine Unterordnung des Selbst verlangt, schloß daraus aber, daß sie damit als Schwindel entlarvt sei und uns zu nichts verpflichten könne. Ihm zufolge gibt es im Leben nur einen wirklichen Imperativ, und zwar zu leben , da ein menschliches Leben zu erschaffen und zu bejahen ein singulärer und wunderbarer Akt der Schöpfung sei. Moral wird aus dieser Perspektive zu einer subversiven Idee jener Personen, die nicht über die notwendige Einbildungskraft oder den Willen verfügen, ein wahrhaft schöpferisches Leben zu führen.
Die Vertreter jener ersten Tradition der Moral des Selbstverzichts verloren das Interesse am Eigeninteresse, das sie als bloße Befriedigung von zufälligen Wünschen verstanden. In der
43 zweiten Tradition, der Ethik der Selbstbehauptung, wurde der Moral teilweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und man betrachtete sie als bloße Konvention ohne
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