German Angst
gebracht, dass sie am Telefon herumschrie und ihre Freunde beschimpfte? Nein, er hatte nur etwas in ihr ausgelöst, das seit einiger Zeit in ihr gärte und rumorte, für das sie kein Ventil fand, das sie nicht benennen konnte, nicht aussprechen, nicht loswurde. Ein Gefühl ständiger Bedrohung, eine fieberhafte Ahnung, ein seismografisches Empfinden für Schwingungen, die immer stärker und unheilvoller wurden.
Sie dachte an die Zeitungsberichte über Lucy, in denen die Reporter sie als Zigeunerkind und Gangsterfratz bezeichneten und suggerierten, dieses dreizehnjährige Mädchen würde die öffentliche Sicherheit der Stadt gefährden, weil es nicht zu bändigen war und wie eine Räuberbraut raubte und brandschatzte. Sie dachte an Chris, der seiner Tochter immer wieder zuredete, Tag und Nacht, sofern sie ihm einmal zuhörte, und der in die Schule ging und versuchte, den Lehrern das Wesen seiner Tochter zu erklären und die Ursachen ihrer manchmal unbeherrschten Art. Er hatte die Geduld eines Engels, fand Natalia, aber diese Geduld half dem Mädchen nicht, sie half niemandem, ihr nicht, ihm nicht, den Lehrern nicht und nicht den Frauen, denen Lucy auf offener Straße die Tasche aus der Hand riss.
In den vergangenen zwölf Monaten war keine Woche verstrichen, in der die Polizei nicht ins Haus kam und Chris zur Rede stellte. Lucy war noch nicht strafmündig. Immer wieder drohte die Polizei damit, Lucy auf der Stelle zu verhaften, sobald sie vierzehn wurde und eine neue Straftat beging. Und Chris redete auf die Polizisten ein, mit der Geduld eines Engels. Ein paar Mal war Natalia dabei gewesen und sie hatte sofort gemerkt, dass die Beamten seine Erklärungen nicht akzeptierten, ihm vielmehr misstrauten und ihn für einen Versager hielten.
Außerdem mochten sie ihn nicht. Sie behandelten ihn wie einen Untertanen, wie einen Gefangenen, wie einen Dummkopf, wie einen Aussätzigen. Sie sprangen mit ihm um wie früher die Kolonialisten mit den Negern. Und Chris war ein Neger, er war schwarz und Lucy hatte ebenfalls eine dunkle Haut, nicht so schwarz wie die ihres Vaters, aber dunkel genug, um in einem Land verachtet zu werden, in dem Ausländer am helllichten Tag mitten in der Stadt unter dem Beifall von Zuschauern zu Tode gehetzt wurden. In zwei Tagen wurde Lucy vierzehn und dann war sie nicht mehr unmündig, sondern verantwortlich für das, was sie anstellte. Von einem Tag auf den anderen durfte man sie einsperren. Obwohl sie dann immer noch ein verwundetes Kind war und Hilfe nötig hatte, nicht Strafe. Vielleicht, dachte Natalia, wäre alles anders, wenn Lucys Mutter noch leben würde. Vielleicht, sagte sie sich, rührte daher ihr seelenschweres Unbehagen: Wenn sie Chris heiraten würde, wäre sie dann fähig, Lucy eine gute Mutter zu sein, eine echte Freundin, eine Vertrauensperson? Oder müsste sie bald einsehen, dass niemand, auch sie nicht, in den Keller von Lucys Innenwelt hinabsteigen konnte, zu den Quellen ihrer Ängste und zerstörerischen Wut? Wäre all ihre Liebe nutzlos und das Mädchen trotz der neuen Nähe unerreichbar für sie? Es klingelte an der Tür, ein Hund bellte. Natalia stand ruckartig auf und fuhr sich mit beiden Händen sanft über die Wangen. Dabei schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus. Vor der Tür stand eine junge Frau mit blauen Stoppelhaaren und sieben silbernen Knöpfen im linken Ohr. Sie hatte eine weite weiße Hose an, die ihre breiten Hüften eher ausstellte als verhüllte, und unter einer Jeansjacke voller Sicherheitsnadeln ein rotes T-Shirt. Sie trug eine schwarze Brille und auf dem Rücken einen winzigen schwarzen Rucksack mit einem runden gelben Button, der die ganze Fläche ausfüllte: BOING!
»Hallo Ines!«, sagte Natalia und streichelte den grauen Hund, der bellend an ihr hochsprang.
Es war ihre blinde Angestellte Ines Groß. Ihren Schäferhundmischling hatte sie aus dem Tierheim, er begleitete sie überall hin und nachts schlief er neben ihr im Bett.
»Hör jetzt auf, Dertutnix!«, rief Ines, weil der Hund anfing, Natalias Ohr abzuschlecken. »Sitz!«
Und brav hockte er sich zwischen die beiden Frauen, die sich umarmten und küssten, und beobachtete sie mit einem treuherzigen Jammerblick. Ines hatte ihn Dertutnix getauft, weil sie überzeugt war, dass der Name einen positiven Einfluss auf seinen Charakter ausübte. Und das stimmte. Natalia kannte keinen Hund, der zahmer war als Dertutnix.
»Ich hab eine Bitte«, sagte sie, als sie Ines eine Tasse roten Pu-Erh-Tee
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