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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Herbst
    Trägt der Wind die Blätter fort,
    Wird, was Baum war, durchsichtig.
    Schaust du durch den ganzen Wald
    Bis zum Jägersmann.
    Steht da gar kein Jägersmann,
    Hat er aber ein Gewehr,
    Zielt damit pfeilgrad auf dich:
    »Nicht schießen!«
    Rückt er sein Gewehr zurecht,
    Weißt du endlich: Daß du siehst,
    Macht, daß du gesehen wirst.
    Peng!
    Lob der Verzweiflung
    Wer von der Schönheit umstellt,
    ist von Verzweiflung bedroht.
    Gestern noch ragte der Baum,
    liegt heut vom Sturme gefällt.
    Gestern noch lachte der Mund.
    Wer von Verzweiflung gepackt,
    der kennt die Regeln des Spiels.
    Wohl dem, der heute beweint,
    was er noch gestern belacht.
    Morgen schon trocknet sein Aug.
    So. Oder so.
    Rabbit on the run
    Robert, altes Kulturkaninchen!
    Mal wieder on the run?
    Robert, armes Kulturkaninchen,
    was tut man dir da an?
    »Man schneidet mir das Schwänzchen ab,
    kupiert mir meine Ohrn.
    Wo nichts mehr zu verlieren ist,
    so heißt es,
    da geht auch nichts verlorn.
    Und daß der Fuchs mich nicht dran packt,
    wird grad mein Laufwerk abgezwackt.
    Jetzt weißt'es.«
    Robert, armes Kulturkaninchen,
    woher rührt all das Blut?
    Robert, altes Kulturkaninchen,
    ist dir nicht gut?
    Gespräch des Geschöpfs
mit dem Schöpfer
    »Schier sechzig Jahr auf deiner Welt -
    bekomme ich jetzt Schmerzensgeld?«
    »Mein Kind, mir geht dein Wunsch zu Herzen:
    Geld hab ich keins. Doch kriegst du Schmerzen!«
    Annus Mirabilis 1997
    Seufzend wank ich unter soviel Glück.
    Wie parier ich nur den ganzen Segen,
    der auf mich herniederprasselt? Regen
    ist das nicht mehr. Das – mein Gott, wie drück
    Ich's nur aus? Ist Wasserfall, ist Flut,
    warme Dusche. Ach, auf allen Wegen,
    die ich einschlag', stürzt sie mir entgegen,
    einem Stausee gleich, der lang geruht,
    Bis der Damm brach. Lobesmassen
    treiben mich in immer höh're Zonen,
    wo um Ruhmestempel Feuer flammen
    Und mich Gernhardt-Priester liebend fassen:
    »Herr! Geruh in diesem Haus zu wohnen!«
    Anbetend brech ich vor mir zusammen.
    Standortbestimmung Ende 1998
    War doch mal Pfeil
    Schoß durch die Zeit
    Schien wie beschwingt
    Und weit und breit
    Gefunkel.
    Steh auf der Stell
    Kein Pfeil, ein Ball
    Nicht mehr im Flug
    Noch nicht im Fall
    Ins Dunkel.
    Cocktail »Millennium«
ODER
unser Getränkevorschlag
für die Silvesterfeier 1999
    Man nehme reichlich Macht, Wahn, Gier und Glauben
    und mixe das mit Lug, Trug, Witz und Wissen:
    Schon füllen Blut, Schweiß, Tränen, Rotz und Pissen,
    erpreßt durch Krieg, Brand, Folter, Mord und Rauben,
    aufschäumend das Gefäß. Den Sud gut rühren,
    mit Gott aufgießen und mit Kunst abschmecken,
    mit Höllenangst und Heilsversprechen strecken
    und nach Bedarf mit Weg, Zweck, Sinn und Ziel garnieren -
    Mensch, welch Gebräu! Bevor wir es probieren,
    bleibt letzte Zeit für allerletzte Fragen:
    Wird's uns vergotten? Wird es uns vertieren?
    So oder so – gleich wird die Stunde schlagen!
    Die Gläser her und keine Zeit verlieren:
    Brühwarm einschenken und eiskalt servieren.
    Was und wer alles ihm
am 13 . Dezember 2000
durch den Kopf ging
    Jedes Weiterleben rächt sich:
    Heute wurd ich Dreiundsechzig.
    Dreiundsechzig!
    Kein Alter fürn Dichter.
    Allein dieser Zahlen
    Gemütlicher Dreischritt:
    Drei, sechs, Quersumme neun,
    So breiig sie alle, so unendlich rundlich -
    Und ein Dichter soll doch anecken!
    Siebzehn! Das säbelt
    Zack! ins Zivile.
    Einundzwanzig!
    Das zeigts den Zeloten.
    Item der Vierziger spitzige Sicheln
    Zielen und ritzen, schnitzen und spießen -
    Dann aber ziehts sich bis siebzig.
    Dreiundsechzig!
    Gesegnetes Alter?
    Im deutschen Dichterwald
    Schafftens nur wen'ge.
    Entsprechend groß die Zahl der vorher
    Gefällten Dichterinnen und Dichter.
    Wollen wir sie reinlassen?
    Wie den edlen Wolfram von Eschenbach
    Wie Walther von der Vogelweide
    Wie den unsteten Ulrich von Hutten
    Mähte der mächtige Tod
    Martin Opitz samt Simon Dach,
    Bevor sie sechzig wurden.
    Auch den famosen Paul Fleming
    Den frommen Friedrich von Logau
    Den armen Andreas Gryphius
    Kappte samt Christian Hofman
    Von Hofmanswaldau die ebenso scharf
    Wie früh geschwungene Sense.
    Kunstreicher Quirinus Kuhlmann
    Genialer Christian Günther
    Geliebter Christian Gellert
    Scharfzüngiger Christian Schubart
    Hymnischer Ludwig Christoph Hölty -
    Ihr sankt in der Blüte der Jahre.
    Grollender Gottfried Bürger
    Feiernder Friedrich Schiller
    Neuland suchender Novalis
    Verzweifelnde von Günderode
    Und du auch, Achim von Arnim, ihr wurdet
    Zwar älter, aber nicht

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