Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
Universitätsklinik einer Operation an Darm und Leber unterziehen müssen, nun lag es nahe, die beiden einschneidenden Erlebnisse miteinander zu vergleichen, die Bypass-Operation von 1996 und die aktuelle.
Da fielen zunächst Gemeinsamkeiten ins Auge. In beiden Fällen hatte ich mich zuvor gesund gefühlt und keine Beschwerden verspürt bzw. als bedrohlich wahrgenommen. In beiden Fällen war die Erkrankung und damit die Notwendigkeit einer raschen Operation während einer Routine-Untersuchung festgestellt worden. In beiden Fällen hatten sich vor dem Augenblick der Wahrheit Gedichte gehäuft, die – um mit dem Kritiker zu sprechen – von »Vergänglichkeit und Vergeblichkeit« redeten. So daß ich in beiden Fällen die Erfahrung machen mußte – machen durfte?–: Das, was dichtet, ist klüger als das, was lebt.
Aus heutiger, also späterer Sicht sind Unterschiede ebensowenig zu übersehen. Der 96er-Eingriff mußte glücklicherweise nicht wiederholt werden, während es nach dem August 2002 nicht bei dem einmaligen Einschnitt blieb. Hilfreich war die anschließende, in Frankfurt und im toskanischen Valdarno durchgeführte Chemotherapie; eine im Dezember an der Frankfurter Universitätsklinik absolvierte Computertomographie ergab den Befund: »Zur Zeit kein Tumor feststellbar.«
Ein Zwischenlager, keine Endstation. Zu Beginn der Chemotherapie hatte ich die folgende Eintragung in mein Brunnen-Heft notiert:
»Wenn das Leben als Reise begriffen wird, dann läßt sich die Krankheit als Landstrich beschreiben, den es zu durchqueren gilt, wobei zu Beginn unsicher ist, was dem Reisenden bevorsteht: Eine Stippvisite? Eine Reise ohne Wiederkehr?
Jeder weiß von Unternehmungen unterschiedlichster Art zu berichten, von Ausflügen, Exkursionen, ganzen Expeditionen – sprich von Kinderkrankheiten und unterschiedlich bedrohlichen Erkrankungen–, ich beispielsweise habe die Halbinsel Herz durchquert und bin nun dabei, den Kontinent Krebs etwas näher ins Auge zu fassen. Seitdem ich weiß, wohin es mich verschlagen hat, seit dem Juli letzten Jahres also, sind bereits zwei Vorstöße gescheitert, das Terrain so rasch wie möglich zu verlassen. Denn was waren die Operationen anderes als der Versuch, den Kontinent im Schnelldurchgang zu durchqueren, in einer Ultraleichtmaschine über das sinistre Gelände hinwegzubrausen?
Nun also der Fußmarsch, die mehrere Monate andauernde Chemo. Seit zwei Wochen bin ich unterwegs; vorsichtig bewege ich mich durch die fremde Welt. Durch eine verrückte Welt: Nicht der Krebs setzt mir vordergründig zu, sondern dessen Bekämpfung. Keine feindlichen Naturvölker, die eigens mitgeführten und eingenommenen Chemikalien greifen mich an, und ich darf nicht zurückschlagen trotz Schwäche, Appetitlosigkeit und Durchfall. Alles klassische Reisekrankheiten, zumal in tropischen Urwäldern, und in eine Art Urwald scheint der Weg auch zu führen, in sumpfiges Gelände, das vorerst nur eine Sicherheit bieten kann: Jeder Montag wartet mit einer erneuten Chemie-Attacke und noch unbekannten Folgen auf.
Andere Expeditionsteilnehmer freilich haben ganz andere Sorgen. Die Frau N, die Montag Vormittag auf dem Nachbarbett ihre Infusionen erhält, hat schon acht Monate Chemo hinter sich, ohne daß sich ihre Lebermetastasen gebessert hätten. Der Durchfall sei anfangs so schlimm gewesen, daß er mit Opiaten habe gestoppt werden müssen, jetzt sei er erträglich; den Haarausfall habe sie ebenfalls verkraftet, jede Woche bringe ihr Mann die Perücke zum Frisör, wo sie gewaschen werde – beklommen hört's der neu dazu Gestoßene. Doch was soll er erst zu den Berichten von Herrn NN sagen, der bereits seit Jahren unterwegs ist, alle Wege und Schleichwege des Terrains zu kennen scheint und dabei letztlich keinen Schritt weitergekommen ist, sofern man das Ziel mit ›die Heilung erreichen‹ definiert. Aber könnte es nicht auch ganz einfach ›am Leben bleiben‹ bedeuten?«
Krankheit als Raum, Krankheit als Stoff: Ein weiterer Unterschied zwischen den Erfahrungen des Jahres 1996 und denen des Jahresbogens 2002/2003 bezieht sich auf ihre – sagen wir es so platt–: Verarbeitung.
1996 hatte ich kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus damit begonnen, eine Art Tagebuch zu führen, wobei ich mich durchgehend einer einzigen Mitteilungsform bediente, einer siebenzeiligen, reimlosen, metrisch festgelegten Strophe. Aus etwa hundertdreißig solcher Eintragungen wählte ich hundert aus, die ich zu dem Zyklus
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