Gesammelte Werke 1
anfangs, als wir noch über keinerlei Fakten verfügten, seine Überlegungen durchaus plausibel klangen - sofern man überhaupt von der Plausibilität einer Logik sprechen kann, die auf einer phantastischen Voraussetzung beruht. Es war interessant zu beobachten, wie Toivo unter dem Druck immer neuer Daten, die die Spezialisten für Kopffüßler und
Paläontologie gewannen, Schritt für Schritt von seiner These abrückte.
Den Rest versetzte ihm ein Biologiestudent, der in Tokio ein japanisches Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert ausgegraben hatte, wo sich eine Beschreibung dieses oder eines ebensolchen Ungeheuers fand (ich zitiere nach meinem Tagebuch):
»In den östlichen Meeren sieht man einen Katatsumoridako von purpurner Farbe mit einer Vielzahl langer dünner Arme; er schaut aus einer runden, dreißig Fuß großen Schale mit scharfen Kanten und Zacken hervor; die Augen sind wie verfault; er ist ganz von Polypen bewachsen. Wenn er auftaucht, liegt er flach auf dem Wasser wie eine Insel; er verbreitet Gestank und sondert etwas Weißes ab, um Fische und Vögel anzulocken. Wenn sie näher kommen, greift er wahllos mit den Armen nach ihnen; davon ernährt er sich. In Mondnächten liegt er da, wiegt sich auf den Wellen, die Augen zum Himmel gerichtet, und sinnt nach über die Tiefen des Wassers, daraus er ausgeworfen ist. Diese Gedanken sind so düster, dass sie die Menschen in Schrecken versetzen und sie zu Tigern machen.«
Ich weiß noch, wie Toivo, nachdem er das gelesen hatte, ein paar Minuten schwieg, in tiefes Nachdenken versunken. Dann atmete er, wie mir schien, fast erleichtert auf und sagte: »Ja, das ist etwas anderes. Zum Glück. Denn es ist gar zu widerlich.« Er stellte sich den Monokosmos als ziemlich abscheuliches Wesen vor - aber doch nicht in diesem Maße. Ein Monokosmos in Gestalt eines Silur-Kraken passte nicht in sein Bild. (Übrigens ebenso wenig, wie diese Molluske ins Bild der Fachleute passte - mit ihrem Verderben bringenden Biofeld, ihrem verschiebbaren Panzer und ihrem persönlichen Alter von mehr als vierhundert Millionen Jahren.)
So endete die erste ernste Angelegenheit, mit der sich Toivo Glumow befasste, ergebnislos. Ähnliche Fehlschläge waren
ihm in der Folgezeit des Öfteren beschieden, bis er mich Mitte des Jahres’98 um Erlaubnis bat, die Unterlagen zu den Massenphobien bearbeiten zu dürfen. Ich genehmigte es.
Dokument 3
KomKon 2
Ural/Norden
Bericht Nr. 011/99
Datum: 20. März’99
Autor: T. Glumow, Inspektor
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Kosmophobie, »Pinguin-Syndrom«
Bei der Analyse von Fällen aus den letzten einhundert Jahren, bei denen kosmische Phobien auftraten, bin ich zu dem Schluss gelangt, dass die Materialien zum sogenannten »Pinguin-Syndrom« im Rahmen des Projekts 009 für uns von Interesse sein können.
Quellen:
A. Möbius: Vortrag auf der XIV. Konferenz der Kosmopsychologen, Riga’84.
A. Möbius: Das »Pinguin-Syndrom«. PKP (»Probleme der Kosmopsychologie«) Nr. 42,’84.
A. Möbius: Nochmals zur Natur des »Pinguin-Syndroms«. PKP Nr. 44,’85.
Notiz zur Person:
Möbius, Asmodäus Matthäus, Doktor der Medizin, korrespondierendes Mitglied der AdMW Europas, Direktor der Filiale
des Weltinstituts für Kosmische Psychopathologie (Wien). Geb. 26. 04.’36 in Innsbruck. Ausbildung: Fakultät für Psychopathologie der Sorbonne; Zweites Institut für Raummedizin, Moskau; Fortgeschrittenenkurse für gerätelose Aquanautik, Honolulu. Wissenschaftliche Interessensgebiete u. a.: produktionsunabhängige Kosmo- und Aquaphobien. Von’81 bis’91 stellvertretender Vorsitzender der Medizinischen Hauptkommission bei der Raumflottenbehörde. Jetzt allgemein anerkannt als Begründer und Vordenker der sog. »polymorphen Kosmopsychopathologie«.
Am 7. Oktober’84 berichtete Dr. Asmodäus Möbius auf der Konferenz der Kosmopsychologen in Riga über eine neue Art der Kosmophobie, die er als »Pinguin-Syndrom« bezeichnete. Es handelt sich dabei um eine ungefährliche psychische Abweichung, die sich in zwanghaft wiederkehrenden Albträumen während des Schlafs manifestiert. Sobald der Kranke in Schlaf oder Halbschlaf fällt, findet er sich im luftleeren Raum wieder - schwebend, vollkommen hilflos, ohnmächtig, einsam und von allen vergessen und dabei seelenlosen und unüberwindlichen Kräften ausgeliefert. Körperlich hat er das Gefühl zu ersticken und spürt, wie tödliche harte Strahlung seinen Körper durchströmt, ihn
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