Gesammelte Werke 1
Bedeutendes hatte sie noch nicht geschaffen. Sie war schön, wesentlich schöner als ihr Selbstporträt. Etwas an ihr erinnerte Toivo an seine Assja; doch hatte er Assja nie im Leben so verängstigt gesehen.
Der Mann hieß Oleg Olegowitsch Pankratow und war Lektor des Syktywkarer Lehrkreises. Zuvor war er fast dreißig Jahre lang Astroarchäologe gewesen, hatte in Fokins Gruppe gearbeitet, an der Expedition zum Kala-i-Mug (auch bekannt als »Morohashis paradoxer Planet«) teilgenommen, die ganze Welt kennengelernt und alles gesehen. Er war ein sehr ruhiger, fast ein wenig phlegmatischer Mann mit Händen so groß wie Schaufeln - verlässlich, solide, gründlich, und mit nichts aus der Ruhe zu bringen; sein Gesicht war weiß und rosig, er hatte blaue Augen, eine Kartoffelnase und einen mächtigen, rotblonden Bart wie Ilja Muromez.
So war es kein Wunder, dass die Eheleute sich während der nächtlichen Ereignisse völlig unterschiedlich verhalten hatten. Oleg Olegowitsch war beim Anblick der lebenden »Säcke«, die durchs Fenster ins Schlafzimmer gekrochen kamen, natürlich sehr erstaunt gewesen, hatte sich aber nicht erschrocken. Vielleicht, weil ihm gleich die kleine Filiale in Nishnaja Pescha eingefallen war, die er seinerzeit mehrere Male besucht hatte, und auch der Anblick der »Monstren« selbst rief bei ihm kein Gefühl von Gefahr hervor. Er hatte vor allem Ekel empfunden, Ekel und Abscheu, doch keinerlei
Furcht. Er hatte sich mit den Händen gegen die Säcke gestemmt, sie nicht ins Schlafzimmer gelassen und zurück in den Garten gedrängt. Es war widerlich gewesen, schlüpfrig, klebrig. Die Säcke hatten sich unter den Handflächen unangenehm schwabbelig angefühlt; am ehesten hatten sie ihn an die Innereien eines riesigen Tieres erinnert. Er war im Schlafzimmer umhergelaufen und hatte fieberhaft überlegt, womit er die Hände abwischen könnte, doch da begann Sossja auf der Veranda zu schreien, und er hatte keine Zeit mehr für Ekelgefühle …
»Ja, wir alle haben uns nicht gerade vorbildlich benommen, aber trotzdem darf man sich nicht so gehen lassen, wie das einige getan haben. Mancher ist ja noch immer nicht zu sich gekommen. Frolow haben wir gleich ins Krankenhaus nach Sula gebracht, wo man ihn förmlich vom Gleiter wegreißen musste, er war völlig außer sich. Und die Grigorjans wollten sich mit ihren Kindern nicht einmal mehr in Sula aufhalten, sie sind alle vier in die Null-Kabine gestürzt und nach Mirza-Charle aufgebrochen. Grigorjan hat uns zum Abschied zugerufen: ›Irgendwohin, bloß recht weit weg und für immer!‹«
Sossja aber konnte die Grigorjans gut verstehen; sie selbst hatte noch niemals solches Grauen empfunden. Dabei ging es gar nicht darum, ob diese Tiere nun gefährlich waren oder nicht. »Uns alle trieb die Angst … Misch dich nicht ein, Oleg, ich rede von uns normalen, unvorbereiteten Leuten, nicht von solchen Teufelskerlen wie dir … Uns trieb die Angst, aber nicht, weil wir uns davor gefürchtet hätten, aufgefressen, erdrosselt, bei lebendigem Leibe verschlungen zu werden oder so etwas. Nein, es war ein ganz anderes Gefühl!« Sossja hatte Mühe, eine halbwegs zutreffende Beschreibung dafür zu finden. Die beste und verständlichste schien ihr folgende: »Es war keine Angst. Es war das Gefühl, es unmöglich ertragen zu können, sich mit diesen Biestern im selben Raum, in
derselben Umgebung aufzuhalten.« Das Interessanteste an ihrer Erzählung aber war etwas anderes.
Nämlich: Diese Ungeheuer waren schön! Sie waren in einem solchen Maße schrecklich und widerwärtig, dass sie auf ihre Weise ganz und gar vollkommen waren - die vollkommene Hässlichkeit. Die ästhetische Nahtstelle des ideal Hässlichen und des ideal Schönen. Jemand hat einmal gesagt, dass ideale Hässlichkeit wohl dieselben ästhetischen Empfindungen in uns hervorrufen müsse wie ideale Schönheit. Bis vorige Nacht war ihr das immer paradox vorgekommen. Aber es war nicht paradox! Oder sei sie jetzt schon so durcheinander … ihre Gedanken völlig unangebracht?
Sie zeigte Toivo einige Skizzen, die sie zwei Stunden nach der Panik aus dem Gedächtnis heraus angefertigt hatte. In einem leerstehenden Häuschen hatten Oleg und sie sich einquartiert. Anfangs hatte ihr Oleg Tonic zu trinken gegeben und versucht, sie mit Psychomassage wieder zu sich zu bringen. Doch als das alles nichts half, griff sie sich ein Blatt Papier, irgendeinen schrecklichen Stift, hart und klobig, und begann hastig, Linie für Linie,
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