Gesammelte Werke 1
sehr leise das Summen eines exotischen Musikinstruments. Ein riesiger Schmetterling kam auf einmal hereingeflogen, beschrieb einen Kreis über dem Tisch, setzte sich auf den Bildschirm des Visors und entfaltete seine flauschigen schwarz-gemusterten Flügel. Toivo streckte ohne aufzustehen die Hand zum Servicepult aus, bekam es jedoch nicht zu fassen und ließ den Arm sinken.
Assja kam mit einem Tablett herein, füllte die Gläser mit Tee und setzte sich neben ihn.
»Schau«, flüsterte Toivo und wies mit den Augen auf den Schmetterling.
»Ist der schön«, erwiderte Assja ebenfalls flüsternd.
»Ob er vielleicht eine Weile bei uns wohnen will?«
»Nein, das wird er nicht wollen«, sagte Assja.
»Aber wieso! Weißt du noch, die Kasarjanows hatten eine Libelle …«
»Die hat aber nicht bei ihnen gewohnt. Sie war nur zu Besuch.«
»Dann kann der Schmetterling ja auch hier zu Besuch bleiben. Wir werden ihn Bummler nennen.«
»Warum Bummler?«
»Wie sonst?«
»Onyx«, sagte Assja.
»Nein«, entschied Toivo. »Was denn für ein Onyx? Bummler soll er heißen - der Bummler, der einkehrt. Und der Bildschirm wird ab sofort die Einkehr.«
Ich will natürlich nicht behaupten, dass das Gespräch zwischen Toivo und Assja am späten Abend des 8. Mai wörtlich so verlief. Doch ich weiß, dass sie im Allgemeinen viel über diese Themen sprachen, sich stritten und verschiedener Meinung waren. Und dass keiner von ihnen je den anderen zu überzeugen vermochte, das weiß ich ebenso.
Assja war es nicht möglich, ihrem Mann den ihr eigenen, grenzenlosen Optimismus zu vermitteln. Ihr Optimismus speiste sich aus der Atmosphäre um sie herum, aus den Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, aus ihrer Arbeit selbst, die viel mit Geschmack und Güte zu tun hatte. Toivo indes befand sich jenseits dieser optimistischen Welt, in einer Sphäre ständiger Sorge und Wachsamkeit. Hier ließ sich Optimismus nur schwer von einem Menschen auf den anderen übertragen, höchstens unter günstigen Umständen und nicht für lange.
Doch auch Toivo schaffte es nicht, aus seiner Frau eine Gleichgesinnte zu machen, sie mit seinem Gefühl einer sich nähernden Gefahr anzustecken. Seinen Überlegungen fehlte es an Konkretheit. Sie waren abstrakt, konstruiert, eine Weltanschauung, für die Assja keinerlei Bestätigung fand; sie waren eine Art Berufskrankheit. Toivo konnte sie weder mit seiner Angst, noch mit seinem Abscheu, seinem Zorn oder seinem Hass anstecken.
Deshalb wurden sie vom Sturm so unvorbereitet getroffen, wie zwei isolierte Wesen, als hätte es diese Diskussionen, die Streitgespräche und erbitterten Versuche, einander zu überzeugen, nie gegeben.
Am Morgen des 9. Mai begab sich Toivo noch einmal nach Charkow, um sich mit dem Hellseher Hirota zu treffen und
die Akte »Besuch des Hexenmeisters« endgültig schließen zu können.
Dokument 9
KomKon 2
Ural/Norden
Bericht Nr. 017/99
Datum: 9. Mai’99
Autor: T. Glumow, Inspektor
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Ergänzung zu Bericht Nr. 016/99
Susumu Hirota alias Senrigan empfing mich um 10:45 Uhr in seinem Arbeitszimmer. Er ist ein kleiner, rüstiger Greis und sieht sehr viel älter aus, als er ist. Von seiner »Gabe« ist er ziemlich eingenommen und nutzt jede Gelegenheit, um sie vorzuführen: Ihre Frau hat Ärger in der Arbeit. Auf die Pandora wird sie ganz sicher fliegen, machen Sie sich keine Hoffnung, das ließe sich vermeiden. Den Stift hier hat Ihnen ein Freund geschenkt, aber Sie haben vergessen, ihn Ihrer Frau zu geben. Und so weiter. Ziemlich unangenehm, finde ich. Der »Exodus« Hexenmeisters lief nach Hirotas Worten so ab: »Er bekam offenbar Angst, ich würde ihm gleich ein Geheimnis entreißen, und da ist er davon gelaufen. Er ahnte ja nicht, dass er mir als leerer, weiß schimmernder Bildschirm erschien, ohne einen einzigen Kontrast; er ist ja ein Wesen aus einer anderen Welt.«
T. Glumow
Dokument 10
WICHTIG!
KomKon 2
Ural/Norden
Bericht Nr. 018/99
Datum: 9. Mai’99
Autor: T. Glumow, Inspektor
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Im Institut der Sonderlinge interessiert man sich für die Zeugen des Vorfalls in Malaja Pescha
Im Laufe meiner Unterredung mit dem diensthabenden Dispatcher des Instituts der Sonderlinge geschah am 9. Mai um 11:50 Uhr Folgendes:
Während er sich mit mir unterhielt, zog der diensthabende Dispatcher Temirkanow schnell und routiniert die Daten vom Registrator und las sie in das Terminal des
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