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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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das sei. Was ihn, den alten Liberalen, aber am meisten ärgerte, war, daß diese Grünschnäbel, wenn sie von der Parallelaktion sprachen, alle beteiligten Ministerialreferenten, Bankpräsidenten und Gelehrten «aufgestutzte Menschlein» nannten; daß sie blasiert behaupteten, es gebe heutzutage keine großen Ideen mehr oder es sei niemand mehr da, der sie verstünde; daß sie sogar die Humanität für eine Phrase erklärten und nur noch die Nation oder, wie sie es nannten, das Volkstum und Brauchtum für etwas Wirkliches gelten ließen.
    «Ich kann mir unter Menschheit nichts vorstellen, Papa» erwiderte Gerda, wenn er ihr Vorhaltungen machte, «das hat heute keinen Inhalt mehr; aber meine Nation, das ist körperlich!»
    «Deine Nation!» begann dann Leo Fischel und wollte etwas von den großen Propheten sagen und von seinem eigenen Vater, der Rechtsanwalt in Triest gewesen war.
    «Ich weiß» unterbrach ihn Gerda. «Aber meine Nation ist die geistige; von der spreche ich.»
    «Ich werde dich solange in dein Zimmer sperren, bis du Vernunft annimmst!» sagte dann Papa Leo. «Und deinen Freunden werde ich das Haus verbieten. Das sind undisziplinierte Menschen, die sich unausgesetzt mit ihrem Gewissen beschäftigen, statt zu arbeiten!»
    «Ich weiß, Papa,» erwiderte Gerda «wie du denkst. Ihr älteren Menschen glaubt, daß ihr uns entwürdigen dürft, weil Ihr uns ernährt. Ihr seid patriarchalische Kapitalisten.»
    Solche Gespräche ereigneten sich durch väterliche Sorge nicht selten.
    «Und wovon wolltest du leben, wenn ich nicht Kapitalist wäre?!» fragte der Herr des Hauses.
    «Ich kann nicht alles wissen» schnitt Gerda gewöhnlich eine solche Erweiterung des Gespräches ab. «Aber ich weiß, daß Wissenschafter, Erzieher, Seelsorger, Politiker und andere Werkmenschen schon daran sind, neue Glaubenswerte zu schaffen!»
    Vielleicht bemühte sich Direktor Fischel noch, ironisch zu fragen «Diese Seelsorger und Politiker seid Ihr wohl selbst?!» aber er tat es nur, um das letzte Wort zu behalten; er war am Ende immer froh, daß Gerda nicht merkte, wie sehr ihm etwas, das unvernünftig war, schon durch Gewohnheit die Befürchtung nahelegte, daß er werde nachgeben müssen. Es kam so weit, daß er am Schluß solcher Unterredungen einigemal sogar die Ordnung der Parallelaktion vorsichtig zu loben anfing, als Gegensatz zu den wilden Gegenbemühungen in seinem, Haus; aber es geschah nur, wenn Klementine nicht in Hörweite war.
    Was Gerdas Widerstand gegen die Ermahnungen ihres Vaters einen stillen Märtyrereigensinn verlieh und auch von Leo und Klementine verwirrt empfunden wurde, war ein durch dieses Haus schwebender Hauch von unschuldiger Wollust. Es wurde unter den jungen Menschen über vielerlei gesprochen, wovon die Eltern erbittert schwiegen. Selbst was sie nationales Gefühl nannten, diese Verschmelzung ihrer Ichs, die sich immerzu stritten, in eine erträumte Einigkeit, die bei ihnen germanische Christbürgergemeinschaft hieß, hatte im Gegensatz zu den wurmenden Liebesbeziehungen der Älteren etwas von geflügeltem Eros an sich. Sie verachteten altklug die «Gier», die «aufgestutzte Lüge des plumpen Daseinsgenusses», wie sie es nannten, aber von Übersinnlichkeit und Inbrunst sprachen sie so viel, daß in der Seele des betroffenen Zuhörers unwillkürlich und durch Kontrast ein zartes Gedenken an Sinnlichkeit und Brunst entstand, und sogar Leo Fischel mußte zugeben, daß der rückhaltlose Eifer, mit dem sie sprachen, zuweilen den Zuhörer die «Wurzeln ihrer Ideen bis in die Beine fühlen mache, was er jedoch tadelte, denn er verlangte, daß man angesichts großer Ideen ein Aufschauen empfinden müsse.
    Klementine dagegen sagte: «Du solltest nicht einfach alles von dir weisen, Leo!»
    «Wie können sie behaupten: Besitz entgeistigt!» fing er dann mit ihr zu streiten an. «Bin ich entgeistigt?! Vielleicht bist du es schon zur Hälfte, weil du ihre Redereien ernst nimmst!»
    «Das verstehst du nicht, Leo; sie meinen es christlich, sie wollen an diesem Leben vorbei, zu einem höheren Leben auf Erden gelangen.»
    «Das ist nicht christlich, sondern verdreht!» verwahrte sich Leo.
    «Die wahre Wirklichkeit sehen am Ende vielleicht doch nicht die Realisten, sondern die, welche nach innen schaun» meinte Klementine.
    «Ich lache!» behauptete Fischel. Aber er irrte sich, er weinte; innerlich, vor Unmacht, der geistigen Veränderungen in seiner Umgebung Herr zu werden.
    Direktor Fischel empfand jetzt öfter

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