Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Pr olog
Vor langer Zeit, ehe die Menschen wussten, was es hieß, die Zeit zu messen, gab es einen Ort, der von Licht, reinem Glauben, Frieden und Wohlstand durchdrungen war. Dieser Ort wurde Anavrin genannt, das mystische Königreich im Nebel. Als geheime Welt, die über ungezählte Jahrhunderte gedieh, existierte dieses Reich abgeschieden von dem der Sterblichen. Anavrins Bewohner wussten nicht, was hinter jenem Schleier lag, der ihr verborgenes Land von der Äußeren Welt trennte. Sie lebten in immerwährendem Sommer, kannten weder Schmerz noch Furcht oder Laster. Von der Schwäche oder Bösartigkeit der Menschen ahnten sie nichts – bis eine anavrinische Prinzessin den folgenschweren Fehler beging, sich in einen Sterblichen zu verlieben.
Ihr Bruder herrschte als König, und seine Gemahlin, die Königin, hatte soeben ihr erstes Kind zur Welt gebracht und damit der anavrinischen Monarchie einen Nachfolger geschenkt. Nach althergebrachter Sitte sollte die Ankunft des Kindes mit einem Schluck aus dem heiligen Kelch von Anavrin gesegnet werden: Der Drachenkelch war aus purem Gold gearbeitet und mit vier verzauberten Edelsteinen verziert. Der Prinzessin wurde als auserwählte Jungfrau die Ehre zuteil, den Kelch mit dem Wasser des Unberührten Quells füllen zu dürfen – ein heiliges Bassin im Waldland, in das sich ein tosender Wasserfall ergoss, der Anavrin von der Äußeren Welt trennte.
Als sie allein am Ufer des Quells stand, vernahm die Prinzessin einen seltsamen Laut, der sogar das Rauschen des Wasserfalls übertönte. Es war die Stimme eines Mannes, eines Sterblichen, der verwundet und klagend auf der anderen Seite des Gewässers lag. Furcht oder Qual waren der Prinzessin unbekannt, aber sie verspürte Mitgefühl und wollte die Leiden des Fremden lindern. So rief sie ihm etwas zu und merkte mit Erstaunen, dass er sie wahrnahm. Er hörte tatsächlich ihre Stimme, wenngleich ihre liebreizende Gestalt hinter der schützenden Wand des Sturzbachs für ihn nicht sichtbar war. Die tosenden Wasser hatten das Reich Anavrin in all den Zeitaltern im Verborgenen gelassen. Er flehte sie an, sie möge aus ihrem Versteck treten und ihm helfen, und versicherte ihr, er würde ihr kein Leid antun. Die Prinzessin indes wusste, dass es verboten war, mit den Bewohnern der Äußeren Welt in Verbindung zu treten; es war undenkbar, die trennende Barriere des Wasserfalls zu durchbrechen. Doch das Leid des Mannes rief ein eigenartiges Ziehen in ihrer Brust hervor, einen seltsamen Schmerz, den sie nicht leichtfertig verdrängen konnte.
Rasch stellte sie den heiligen Kelch am Quellufer ab, näherte sich dem wild rauschenden Wasserfall und trat durch ihn hindurch in die Äußere Welt. Zu ihrem Entsetzen war die Wunde des Mannes ernster, als sie befürchtet hatte. An seinen blauen Augen, die sich eintrübten, sah die junge Frau, dass er im Sterben lag. Als sie ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn strich, erblickte sie ein außergewöhnlich schönes Gesicht. Er sah so hinreißend aus, dass sich die Prinzessin noch im selben Moment in den Fremden verliebte. Sie musste ihm einfach helfen, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er verlangte nach Wasser, doch das wenige, das sie mit ihren zarten Händen aus dem Teich unterhalb des Sturzbachs schöpfte, vermochte seinen Durst kaum zu löschen.
Da entsann sich die Prinzessin des Drachenkelchs, der mit dem Wasser des heiligen Quells gefüllt war und nur wenige Schritte von der Schwelle zum anavrinischen Königreich entfernt stand. Das juwelenbesetzte Gefäß barg eine geheime Kraft, vielleicht genug, um dem Mann zu helfen, der blutend in ihren Armen lag. Allerdings konnte sie den Kelch nicht zu ihm bringen, denn es war bekannt, dass ganz Anavrin von einem fürchterlichen Übel befallen werden würde, wenn dieser je das Reich verließe. Es hieß, ein großer und gefährlicher Drache würde entfesselt werden und auf das Königreich niederstoßen, sollten die Bewohner den Drachenkelch und dessen schützende Kraft verlieren. Um dem armen Mann zu helfen – und auf nichts anderes waren ihre Gedanken gerichtet –, musste die Prinzessin ihn zu dem wertvollen Gefäß bringen.
In dem sicheren Glauben, das einzig Richtige zu tun, half die Prinzessin ihm auf die Beine und führte ihn zu dem Sturzbach. Der Fremde war zu schwach, ihre Absicht zu hinterfragen, und zu matt, um das außergewöhnliche Geschenk zu erahnen, welches sie ihm machen wollte. Und so gab die Prinzessin ihm aus dem Kelch zu
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