Gesammelte Werke
wäre, in den Einzelheiten zu wiederholen, was bis zu den gemeinsamen Kindheitserinnerungen zurückreichte, beim Wiedersehen wieder erwacht war, und seither allen Erlebnissen und den meisten Gesprächen etwas Seltsames gab, läßt sich nicht verschweigen, daß der markbetäubte Anhauch des Stillebens daran immer zu spüren war. Unwillkürlich, und ohne etwas Bestimmtes anzunehmen, das sie hätte leiten können, wandten sie darum ihre Neugierde allem zu, was mit dem Wesen des Stillebens Verwandtschaft haben könnte; und es ergab sich mehr oder minder der folgende Wortwechsel, der wie ein Wirtel das Gespräch nochmals spannte und von neuem abrollen ließ!
Vor einem unerschütterlichen Antlitz, das keine Antwort erteilt, um etwas flehen zu müssen, treibt den Menschen in einen Rausch der Verzweiflung, des Angriffs oder der Würdelosigkeit. Ebenso erschütternd, aber unsagbar schön, ist es dagegen, vor einem reglosen Antlitz zu knien, auf dem das Leben vor wenigen Stunden erloschen ist und einen Schein zurückgelassen hat wie ein Sonnenuntergang.
Dieses zweite Beispiel ist sogar ein Gemeinplatz des Gefühls, wenn je etwas so benannt werden darf! Die Welt spricht von der Weihe und Würde des Todes; es gibt das poetische Motiv der aufgebahrten Geliebten seit hunderten, wenn nicht tausenden Jahren; es gibt eine ganze damit verwandte, zumal lyrische Todespoesie. Es ist wahrscheinlich etwas Knabenhaftes daran. Wer malt sich aus, daß ihm der Tod die edelste der Geliebten zu eigen schenkt? Dem der Mut oder die Möglichkeit fehlt, eine lebende zu haben!
Von dieser poetischen Knabenhaftigkeit führt eine kurze Linie zu den Schauern der Geister- und Totenbeschwörung; eine zweite zum Greuel der wirklichen Nekrophilie; vielleicht eine dritte zu den krankhaften zwei Gegensätzen des Exhibitionismus und der gewaltsamen Nötigung.
Das mögen befremdliche Vergleichungen sein, und zum Teil sind es höchst unappetitliche. Aber wenn man sich davon nicht abhalten läßt und sie sozusagen medizinisch-psychologisch betrachtet, zeigt sich, daß eins allen gemeinsam ist: eine Unmöglichkeit, ein Unvermögen, ein Mangel an natürlichem Mut oder Mut zum natürlichen Leben.
Auch ist aus ihnen die Erfahrung zu gewinnen, wenn man sich zu einem solchen Zweck denn schon auf gewagte Vergleiche eingelassen hat, daß das Schweigen, die Ohnmacht und jedwede Unvollständigkeit des Gegenspielers mit der Wirkung verbunden ist, das Gemüt in Überspanntheit zu versetzen.
So wiederholt sich vornehmlich doch, was auch früher gesagt worden, daß ein ungleichwertiger Gegenspieler die Liebe schief macht; es wäre bloß beizufügen, daß es nicht selten schon eine schiefe Verfassung des Gefühls ist, die ihn überhaupt wählen heißt. Und umgekehrt, wäre es der erwidernde, lebende, handelnde Mitspieler, der die Gefühle in Ordnung hält und bestimmt, und ohne den sie zur Spiegelfechterei entarten.
Das Stilleben aber, ist sein seltsamer Reiz nicht auch Spiegelfechterei? Ja, fast eine ätherische Nekrophilie? Und doch ist eine ähnliche Spiegelfechterei auch in den Bücken von glücklich Liebenden als Ausdruck ihres Höchsten. Sie sehen einander ins Auge, können sich nicht losreißen und vergehen in einem wie Gummi dehnbaren unendlichen Gefühl!
Ungefähr so hatte der Wortwechsel also begonnen, aber an dieser Stelle war sein Faden recht eigentlich hängen geblieben; und zwar eine ganze Weile, ehe er wieder weiterlief. Die beiden hatten einander wirklich angesehen und waren dadurch nämlich ins Schweigen verfallen.
Bedarf es aber einer Bemerkung, die das erklärt, und überhaupt solche Gespräche nochmals rechtfertigt und ihren Sinn ausspricht: so ließe sich vielleicht das sagen, was Ulrich begreiflichermaßen in diesem Augenblick bloß einen stummen Einfall bleiben ließ, daß es nämlich beiweitem nicht so einfach sei zu lieben, wie die Natur dadurch glauben machen will, daß sie jedem Stümper unter ihren Geschöpfen die Werkzeuge dazu anvertraut hat.
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55
Atemzüge eines Sommertags (Fragment)
Die Sonne war unterdessen höhergestiegen; die Stühle hatten sie wie gestrandete Boote in dem flachen Schatten beim Haus zurückgelassen, und lagen auf einer Wiese im Garten unter der vollen Tiefe des Sommertags. Sie taten es schon eine ganze Weile, und obgleich die Umstände gewechselt hatten, kam es ihnen kaum als Veränderung zu Bewußtsein. Ja eigentlich tat dies auch nicht der Stillstand des Gesprächs; es war hängen geblieben, ohne einen Riß
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