Gesammelte Werke
es ist, um so mehr erinnert dieses an die Unruhe in einem Raubtierkäfig zur Fütterungsstunde, wenn das Fleisch an den Gittern vorbeigetragen wird, und bald nachher an die satte Ermüdung. Ist es nicht so? Die andere Art leidenschaftlich zu sein und zu handeln ist aber die: Man hält an sich und gibt der Handlung nicht im mindesten statt, zu der jedes Gefühl hinzieht und treibt. Und in diesem Fall wird das Leben wie ein etwas unheimlicher Traum, worin das Gefühl bis an die Wipfel der Bäume, an die Turmspitzen, an den Scheitel des Himmels steigt ...! Allzu wahrscheinlich haben wir daran gedacht, als wir noch von Bildern, und nichts als ihnen, zu sprechen vorgaben.»
Agathe stützte sich neugierig auf. «Hast du nicht einmal schon gesagt,» fragte sie «daß es zwei von Grund auf verschiedene Möglichkeiten zu leben gibt und daß sie geradezu verschiedenen Tonarten des Gefühls gleichen? Die eine sollte die des ‹weltlichen› Gefühls sein, das nie zur Ruhe und Erfüllung kommt; die andere, ich weiß nicht, ob du ihr einen Namen gegeben hast –: aber es hätte wohl die eines ‹mystischen› Gefühls sein müssen, das dauernd mitklingt, aber niemals zur ‹vollen Wirklichkeit› gelangt?» Obgleich sie zögernd sprach, hatte sie sich überhastet und endete verlegen.
Ulrich erkannte dennoch recht gut, was er gesagt zu haben schien; und schluckte daran, als hätte er etwas zu Heißes im Mund gehabt; und versuchte zu lächeln. Er sagte: «Sollte ich das gemeint haben, so muß ich mich jetzt wohl umso anspruchsloser fassen! Ich werde also die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins einfach nach einem bekannten Beispiel die appetithafte und ebendann auch, als deren Gegenteil, die nicht-appetithafte nennen, mag es sich unschön anhören oder nicht. Denn in jedem Menschen ist ein Hunger und verhält sich wie ein reißendes Tier; und ist kein Hunger, sondern etwas, das frei von Gier und Sattheit, zärtlich wie eine Traube in der Herbstsonne reift. Ja, sogar in jedem seiner Gefühle ist das eine wie das andere.»
«Also geradezu eine vegetabile, wenn nicht gar vegetarische, neben einer animalischen Anlage?» Ein Anflug von Vergnügen und Neckerei war in dieser Frage Agathes.
«Beinahe!» erwiderte Ulrich. «Vielleicht wäre das Tierische und das Pflanzenhafte, als Grundgegensatz der Gelüste verstanden, sogar der tiefste Fund für einen Philosophen! Aber sollte ich denn einer sein wollen! Wessen ich mich erdreiste, ist schlechthin nur das, was ich gesagt habe, und namentlich was ich zuletzt gesagt habe, daß die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins ein Vorbild, und vielleicht gar ihren Ursprung, schon an jedem Gefühl haben. An jedem Gefühl lassen sich diese zwei Seiten unterscheiden» fuhr er fort. Aber merkwürdigerweise sprach er dann nur von dem, was er unter der appetitiven verstand. Sie drängt zum Handeln, zur Bewegung, zum Genuß; durch ihre Wirkung verwandelt sich das Gefühl in ein Werk, oder auch in eine Idee und Überzeugung, oder in eine Enttäuschung. Das alles sind Formen seiner Entspannung, können aber auch solche der Umspannung und Neukräftigung sein. Denn auf diese Art verändert sich das Gefühl, nützt sich ab, verläuft sich in seinem Erfolg und findet darin ein Ende; oder es verkapselt sich darin und verwandelt seine lebendige Kraft nun in eine aufgespeicherte, die ihm die lebendige später und gelegentlich oft mit Zinseszins wieder zurückgibt. «Und wird etwa nicht dadurch schon das eine verständlich, daß die rüstige Tätigkeit unseres weltlichen Fühlens und seine Hinfälligkeit, über die du so angenehm geseufzt hast, keinen großen Unterschied für uns ausmachen, mag er auch ein tiefer sein?» schloß Ulrich einstweilen seine Antwort.
«Nur zu sehr kannst du recht haben!» stimmte Agathe zu. «Mein Gott, dieses ganze Werk des Gefühls, sein weltlicher Reichtum, dieses Wollen und Freuen, Tun und Untreuwerden, wegen nichts, als weil es treibt! einbezogen alles, was man erfährt und vergißt, denkt und leidenschaftlich will, und doch auch wieder vergißt: Es ist ja schön wie ein Baum voll Äpfel in jeder Farbe, aber es ist auch formlos eintönig wie alles, was jedes Jahr auf die gleiche Art sich rundet und abfällt!»
Ulrich nickte zu dieser einen Hauch von Ungestüm und Verzicht ausatmenden Antwort seiner Schwester. «Dem appetitartigen Teil der Gefühle verdankt die Welt alle Werke und alle Schönheit, allen Fortschritt, aber auch alle Unruhe, und zuletzt all ihren sinnlosen
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